Das Gift der Engel
Noten aus dem Besitz eines Bekannten stammen, der umgebracht wurde. Genau wie …« Er stockte.
Dennekamp runzelte die Stirn, und seine dunklen Augenbrauen schienen sich für einen Moment zu einem langen schwarzen Strich zu verbinden. »… wie meine Frau«, vollendete er den Satz. Seine Stimme klang plötzlich viel klarer, als sei er schlagartig stocknüchtern geworden.
»Kennen Sie einen Dr. Wolfgang Joch?«, fragte Alban. »Oder haben Sie vielleicht in der Zeitung von dem Mord in der Lotharstraße gelesen?«
Dennekamp starrte Alban an, zeigte aber keine Regung. Der Strich über den Augen blieb.
»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich Ihnen die ganze Geschichte erzählen«, bat Alban. »Wenn Sie danach das Gefühl haben, es führt zu nichts, gehe ich. Übrigens – ein paar Ihrer Noten interessieren mich.« Dennekamps finstere Miene veränderte sich nicht, und so fügte Alban hinzu: »Ich könnte mir vorstellen, Ihnen einen Posten abzunehmen. Vielleicht kommen wir ja ins Geschäft?«
Der Junge hat die ganze Nacht geweint – bis alle Glieder schmerzten.
Luisa hat sich um ihn gekümmert. Sie hat ihm frische Wäsche und Tee gebracht, später einen Teller Suppe. Der Mann ist nicht mehr gekommen.
Er denkt an die Begegnung mit der Frau.
Eine eigenartige Kraft ging von ihr aus, und sie hat in ihm Empfindungen geweckt, die völlig neu für ihn waren.
Sehnsucht. Herzklopfen. Das Gefühl, als flösse etwas Prickelndes in den Adern. Etwas Schmerzvolles. Etwas Lustvolles.
Warum ist sie nicht mehr gekommen?
Er sitzt am Fenster und blickt hinaus. Es ist heller Tag, der Himmel etwas bewölkt. Hinter der Mauer erhebt sich ein bewaldeter Hang. Die hohen Bäume tragen jetzt, im Herbst, nur noch wenig Laub. Manchmal bewegt sich etwas in den Ästen, löst sich und strebt über das Gewirr von kahlem Holz himmelwärts. Es sind Vögel. Er beneidet sie.
Der Wald steht starr und schweigt.
Vielleicht kommt sie wieder.
Der Antiquar hatte Alban über eine schmale, wacklige Wendeltreppe in ein winziges, ebenfalls vollgestopftes Büro in der oberen Etage geführt. Auch hier stapelten sich Bücher, Zeitschriften und undefinierbarer Papierkram. Dennekamp hatte sich hinter den Zwillingsbruder des kleinen Schreibtischs aus dem Erdgeschoss gequetscht. Immerhin gab es in dem Büro zwei Stühle, sodass man sich gegenübersitzen konnte.
Alban berichtete, was er über die Arienpartitur wusste. Und er blieb bei der Wahrheit. Er behauptete nicht, das Manuskript von Joch selbst erhalten zu haben, sondern er erzählte auch von Arne Zimmermann. Er verschwieg auch nicht, dass er Hauptkommissar Kessler kannte. Er hatte das Gefühl, Dennekamp Vertrauen entgegenbringen zu müssen, sonst würde der nicht das Geringste über seine verstorbene Frau sagen.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich glaube, die Partitur könnte aus Ihrem Antiquariat stammen? Eine alte Handschrift und ein Antiquariat – das passt doch gut zusammen.«
Dennekamp nickte.
»Ich muss etwas über Ihre Frau erfahren. Bitte helfen Sie mir dabei.«
Dennekamp stand auf und bückte sich. Er wühlte in einem Karton und zog ein Buch hervor. Alban erkannte es sofort. Es war der Lyrikband »Mondschatten«.
»Können Sie sich vorstellen, dass jemand nichts anderes tut, als solche Sachen zu schreiben?« Alban glaubte eine Spur Zorn aus der Stimme des Antiquars herauszuhören. Er wusste nicht, ob es Zorn auf Dagmar Dennekamp oder auf die Tatsache war, dass sie so früh hatte sterben müssen.
Alban nahm das Buch, das er schon kannte. Er blätterte ein wenig darin herum und geriet auf die letzte Innenseite. Dort war ein Foto von der Autorin zu sehen, das ihm in Jochs Wohnung nicht aufgefallen war.
Dagmar Dennekamp sah sehr jung aus – wie eine kaum achtzehnjährige Schülerin. Ihr langes dunkles Haar schmiegte sich um ein schmales Gesicht. Sie trug eine Brille mit dunkler Hornfassung.
Alban schlug die erste Seite auf, und sein Blick fiel auf den Namen des Verlages, in dem das Buch erschienen war. Es war Dennekamps. »Wir haben vor drei Jahren geheiratet«, sagte Dennekamp. »Am Anfang hat Dagmar es genossen, mit mir hier zwischen all den Büchern zu arbeiten.«
»War sie auch Buchhändlerin?«
»Sie hat Germanistik studiert und schon immer große dichterische Ambitionen gehabt. Nach und nach wollte sie dann hier nicht mehr mitmachen, hat sich immer weiter zurückgezogen … Der Beruf ist anstrengender, als manche denken. Die ganze Woche über ist man damit
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