Das Gift der Engel
gebrauchen. Außerdem gab’s noch eine Lebensversicherung … Zum Glück konnte ich beweisen, dass ich es nicht war. Also habe ich das Geld gekriegt.«
Genützt hat es dir offensichtlich nichts, dachte Alban.
Dennekamp brachte die leere Flasche in den Nebenraum, wo er die Notizbücher hergeholt hatte. Als er wiederkam, hielt er einen hellen, prall gefüllten Jutesack in den Händen.
»Musik hat ihr auch gefallen. Sie hat sie inspiriert. Sie hatte CDs … Hier drin sind sie.« Er hielt Alban den Beutel hin.
Es waren klassische Aufnahmen. Schumann-Sinfonien, Schuberts Unvollendete, Bruckner. »Ihre Frau hatte auch musikalisch eine Vorliebe für die Romantik«, stellte Alban fest, während er weiter die CDs durchsah. »Komponierte sie vielleicht auch?«
Dennekamp schüttelte den Kopf. »Nein, das konnte sie gar nicht.«
Plötzlich durchzuckte Alban ein eisiger Schreck. Dieses Cover kannte er! Was für ein Zufall …
»Was ist?«, fragte Dennekamp, dem Albans Erstaunen nicht entgangen war.
»Das hier ist die CD meiner Frau.«
»Was meinen Sie?«
Er hielt die CD hoch. »Ich war mit Lea Rosemann verheiratet. Sie ist vor einigen Jahren gestorben.«
»Die hat ihr besonders gut gefallen«, sagte Dennekamp. »Schauen Sie mal hier.«
Er nahm den Band mit dem Titel »Mondschatten« und schlug eine der ersten Seiten auf. Die Autorin hatte ein Motto vorangestellt – ein paar Gedichtzeilen. Alban kannte sie gut.
»Durch alle Töne tönet, im bunten Erdentraum, ein leiser Ton gezogen, für den, der heimlich lauschet «, las er. Friedrich Schlegel hatte das gedichtet, und diese Worte waren das Motto für Schumanns Fantasie op. 17. Das erste Stück auf Leas CD …
Wie viele von diesen CDs sind in den Handel gekommen?, fragte er sich. Höchstens zweihundert. Und von der Schumann-Fantasie gibt es massenhaft Aufnahmen. Und ausgerechnet diese eine musste Dagmar Dennekamp besitzen.
»Die Welt ist klein«, sagte Dennekamp.
Alban grübelte. War es wirklich so abwegig, dass die Existenz des Lyrikbandes »Mondschatten« in Jochs Bücherregal ein Zufall war? Wenn doch die Existenz von Leas CD, einst bei einem winzigen Label erschienen, auch einer war? Oder war es vielleicht gar keiner? Gab es irgendeinen hintergründigen Sinn, den Alban nur nicht verstand?
Plötzlich fiel es ihm immens schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte Lea in diesem Spiel? Er versuchte, die Gefühle, die auf ihn einstürmten, zu verdrängen.
Er ließ die CD zurückgleiten und zog dann eine andere heraus, die offenbar gebrannt worden war. Sie war unbeschriftet. »Was ist das hier?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Sicher auch irgendwas, das sie zu ihren Gedichten inspiriert hat.«
Alban sah Dennekamp an. »Könnten Sie mir einen großen Gefallen tun? Leihen Sie mir die Notizen Ihrer Frau?«
»Die … Notizbücher? Sie wollen sie lesen?«
»Sie sagten, sie seien ein lyrisches Tagebuch. Könnte man darin nicht vielleicht einen Hinweis finden?«
Dennekamp runzelte die Stirn. »Ja, Sie haben vielleicht recht. Einen Hinweis …« Er hielt eine der Chinakladden in die Höhe. »Das hier ist ihr letztes. Sie hat noch wenige Tage vor ihrem Tod darin geschrieben.«
Alban blätterte durch mit gleichmäßiger blauer Schrift bedeckte Seiten. Etwa in der Mitte des Buches endeten die Eintragungen. Auf der letzten beschriebenen Seite stand ein Text, der wohl ein Gedicht sein sollte.
»Es wachte der Morgen und lief an den hellen Fenstern vorüber« , las Alban. »Jauchzend, sodass ich ganz verzückt, lange nicht fassen konnte, was mir an diesem Tage geschah …«
»Eigenartig, oder?«, warf Dennekamp ein.
»Es klingt altmodisch.«
Dennekamp nickte.
»Wie groß die Welt, wie herrlich der Tag, und eh ich’s versah, kam der Abend, da ich hinaustrat in eng verwinkelte Gassen, strebsam hin nach der grünen Weite, dem Lande jenseits des Stromes, wo Felsen wittern im Dämmer, wo Quellen heimlich rauschen, wo ich finden werde unendliche Sehnsucht …«
Alban ließ das Buch sinken. Altmodisch war noch ein sehr netter Ausdruck. Ein furchtbarer Kitsch war das. Verunglückte romantische Lyrik.
Er las den Text noch einmal von vorne. Er war datiert, und wenn Alban die Informationen von Kessler richtig in Erinnerung hatte, war er kurz vor Dagmar Dennekamps Tod entstanden. Neben dem Datum war ein Titel vermerkt.
»Das Gift der Engel« , las Alban.
Dennekamp nickte. »Nehmen Sie die Tagebücher mit. Sehen Sie sie in Ruhe durch.« Er wies auf die
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