Das Gift der Engel
Jutetasche. »Das können Sie auch geliehen haben. Finden Sie heraus, was dahintersteckt. Ich vertraue Ihnen.«
Alban hatte plötzlich ein Déjà-vu-Erlebnis. Er hatte das Gefühl, wieder Arne Zimmermann gegenüberzusitzen. Dennekamp und er hatten nicht die geringste Ähnlichkeit, es waren grundverschiedene Typen, aber erneut sollte ein Rätsel gelöst werden, bei dem es um eine Handschrift ging. Die ganze Geschichte wiederholt sich, dachte Alban. Dagmar Dennekamp und Wolfgang Joch. Beide wurden erschlagen. Niemand weiß, von wem und warum. In beiden Fällen kann man das Geheimnis vielleicht lösen, wenn man Geschick im Interpretieren und Entziffern von alten Texten und Noten aufbringt.
Dagmar Dennekamp hat das Gedicht vielleicht gar nicht selbst geschrieben, dachte er. Vielleicht stammt es von einem romantischen Dichter. Vielleicht von Eichendorff. Aber nein, das kann nicht sein, dachte Alban, so schlecht hat Eichendorff nicht gedichtet, er hat zumindest das Versmaß eingehalten.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er war beim Durchblättern doch auf etwas gestoßen …
Er schlug das letzte Tagebuch an einer anderen Stelle auf und las: »Aus der Heimat hinter den Blitzen rot, da kommen die Wolken her, aber Vater und Mutter sind lange tot, es kennt mich dort keiner mehr.«
Das war Eichendorff. Original, unverfälscht. Einfach abgeschrieben.
Alban sah auf und blickte in Dennekamps Gesicht.
»Dagmar hat sich ihre Anregungen geholt«, sagte der Antiquar lakonisch.
Alban blätterte weiter und kam an eine Passage, die in Prosa geschrieben war.
»Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort.«
Eichendorff. Schon wieder. Und ohne eine Änderung. Alban kannte die Stelle. Es war ein Stück aus …
»Ahnung und Gegenwart«, sagte Dennekamp, der offenbar genau wusste, was in Alban vorging. »Dagmar hat in ihrem Tagebuch nicht nur selbst geschrieben, sondern auch literarische Passagen gesammelt, die ihr gefallen haben.«
»Und die in das Rheintal passen«, fügte Alban hinzu. Und zu Schumanns Musik, dachte er, und zwar zu Schumanns Musik in Leas Interpretation.
Er wischte den Gedanken zur Seite. »Ich werde mir das alles mal ansehen.« Er nahm den Beutel, packte die Notizbücher und stand auf. »Diese Schreibgruppe – wo und wann trifft sie sich eigentlich?«
»Irgendwo in der Südstadt, glaube ich. Wo genau, hab ich vergessen.«
»Können Sie sich wirklich nicht erinnern? Es wäre wichtig. Die Adresse Ihrer Frau in Erpel bräuchte ich auch.«
Dennekamp stieß wieder auf und blickte ratlos vor sich hin. Auf seiner Stirn zeigten sich ein paar Runzeln.
»Vielleicht hab ich das noch irgendwo. Ich muss nachsehen.«
»Könnten Sie das jetzt gleich machen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich rufe Sie heute Nachmittag an.«
Alban legte Dennekamp seine Visitenkarte hin, verabschiedete sich und fand zwischen den Bücherstapeln den Weg hinunter zum Ausgang.
Bevor er die Tür öffnete, musterte er die Kiste mit den Taschenpartituren. Er schüttelte den Kopf und ging hinaus.
Im Wagen starrte er eine Weile das Lenkrad an und ordnete seine Gedanken.
Hatte sich Dennekamp vielleicht geirrt? Stammte die Handschrift vielleicht doch aus seinem Laden, und er wusste es nur nicht mehr? So ein Antiquar konnte sich doch nicht alles merken, was durch seine Lager ging! Da wurden ganze Nachlässe aufgekauft. Wie leicht konnte da ein Manuskript dazwischen liegen, das man übersah. Vor allem wenn so eine Unordnung herrschte wie hier.
So musste es gewesen sein! Dagmar Dennekamp hatte in dem Laden mitgearbeitet. Sie hatten den Nachlass eines Musikers oder eines Komponisten aufgekauft. Ihr war die Partitur aufgefallen, und sie hatte das Manuskript beiseitegelegt. Später hatte sie dann Joch kennengelernt. Oder sie kannte ihn schon. Eine Begegnung im Konzert oder im Café. Man spricht über dies und das, Dagmar gibt Joch ihr Buch und später noch die Partitur. Warum auch nicht? Sie weiß, dass er Musikliebhaber ist. Vielleicht will sie ihm ein
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