Das Gift der Engel
Passage.
Simone las:
»Es wachte der Morgen und lief an den hellen Fenstern vorüber,
Jauchzend, so dass ich, ganz verzückt, lange nicht fassen konnte,
Was mir an diesem Tage geschah.
Wie groß die Welt, wie herrlich der Tag, und ich’s versah kam der Abend,
da ich hinaustrat in eng verwinkelte Gassen, strebsam hin
nach der grünen Weite, dem Lande jenseits des Stromes,
wo Felsen wittern im Dämmer, wo Quellen heimlich rauschen,
wo ich finden werde unendliche Sehnsucht.
Von der Nixe getragen im glänzenden Licht, hinüber, wo Kirche und Kreuz hoch am Berge einander sich grüßen.
Von Schwänen willkommen geheißen, gilt es,
hinaus aus des Lebens grauem Getriebe, dem Kreuze entgegen,
vorbei an den stillen Bildern der Andacht,
hinan, wo der heilige Prediger mahnend wacht,
und weiter den engen Pfad gegangen,
Wo Maria den Eingang zu deinem Reich, Geliebter, bewacht.
Hast auch du einst den Weg des Stromes
Genommen, du Ferner, Engelsgleicher?
Kamst von weit, dem Lande der gelben Früchte, die einst schon
Der Dichterfürst besang.
Bist gekommen zu singen das Loblied Matthei.
Bist jetzt verdammt, die Poesie im Verborgnen, im Tal der Tauben, zu leben.
So ging zugrunde, was als Balsam geboren ward,
und wurde zum Gift.
Zum Gift der Engel.«
Sie sah auf. »So was hat eine Frau aus unserer Zeit geschrieben? Wie alt soll die denn gewesen sein? Hundert?«
»Knapp über dreißig«, sagte Alban.
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Es gibt Leute, die versuchen künstlerisch in einer anderen Zeit zu leben. Die romantischen Musiker und Dichter haben das übrigens selbst gern getan. Sie liebten Motive aus dem Mittelalter und wandten sich alten literarischen Gattungen und Formen zu, zum Beispiel den Märchen. Denk an die Brüder Grimm. Das waren Romantiker. Ganz sicher hat sich Dagmar Dennekamp als romantische Künstlerin gefühlt.«
Alban berichtete, dass sie nach Erpel gezogen war und dass er selbst eine kleine Visite unternommen hatte.
»Erpel ist wie geschaffen für jemanden, der der bösen Welt entfliehen will.«
Simone blickte verständnislos drein. »Wenn ich der bösen Welt entfliehen wollte, würde ich mir ein Ferienhaus in der Toskana oder in Südfrankreich kaufen. Vor allem wenn ich Geld von meinen Eltern geerbt hätte.«
»Vielleicht hat es ja für ein Ferienhaus nicht gereicht. Und vergiss nicht, dass sie ein Faible für die Rheinromantik hatte.«
»So wie Thomas Gottschalk?« Simone grinste.
»Thomas Gottschalk?«
»Sag bloß, der Name Thomas Gottschalk sagt dir nichts. Nikolaus, den solltest du kennen, auch wenn du selbst kaum fernsiehst.«
»Ich weiß sehr genau, wer Thomas Gottschalk ist. Dieser Blondschopf, der nicht alt werden kann. Was hat der mit unserer Geschichte zu tun?«
Simone nahm die Zeitung von der Anrichte. Sie blätterte und hielt Alban schließlich eine Meldung hin: »Gottschalk kauft Rhein-Schloss in Remagen.«
Alban las den Text. »Interessant«, sagte er. »Das ist Schloss Marienfels. Es liegt Erpel praktisch gegenüber.«
»Sag ich doch. Gottschalk und unsere Frau Dennekamp haben was gemeinsam.« Simone überflog noch einmal die Gedichtzeilen. »Du hast gesagt, dieses Notizbuch hier sei ein lyrisches Tagebuch. Und in einem Tagebuch beschreibt man doch eigene Erlebnisse. Dann handelt das Gedicht wahrscheinlich von einem Erlebnis, das Dagmar Dennekamp hatte.«
»Das muss nicht sein. Gedichte beschreiben nicht immer die Gefühlslage des Dichters, und manchmal ist die Person, die in einem Gedicht mit ›ich‹ bezeichnet wird, auch nicht der Dichter selbst.«
»Aber das klingt mir sehr danach. Du hast doch gesagt, sie habe in Erpel gewohnt. Hier geht es ja um verwinkelte Gassen. Um etwas, das jenseits des Stromes liegt.«
Alban rückte näher heran und las mit. »Aber diese Formulierungen, ›wo Quellen heimlich rauschen‹, dann dieses Heraufbeschwören der ›unendlichen Sehnsucht‹ – das sind Klischees. Die könnte sie überall zusammengeklaubt haben.«
»Aber auch wenn der Stil schlecht ist – es muss doch einen Grund geben, warum das hier steht. Niemand schreibt aus reinem Jux solche Sachen, oder? Es zeigt doch, was sie bewegt hat.«
»Dann muss sie auch religiös gewesen sein«, überlegte Alban. »Ebenfalls typisch für die Romantik. Das Religiöse wird dem Heidnischen gegenübergestellt. Erst erwähnt sie eine Nixe. Das ist eine Figur aus der heidnischen Mythologie. Dann erwähnt sie christliche Symbole: eine Kirche und ein Kreuz. Es geht um ein
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