Das Gift der Engel
In Unkel drängte sich die B42 an die Weinberge, dann ging es zurück an den Fluss, und Alban erreichte Erpel.
Das Städtchen versteckte sich hinter einer langen Stadtmauer aus Natursteinen. Er fuhr die Front ab, bis der Ort zu Ende war. Ein Stück weiter rheinaufwärts ragte ein dunkles Bauwerk auf, schwarz und drohend wie eine Burgruine. Der östliche Turm der alten Remagener Brücke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Darüber erhob sich ein steiler Felsen mit einem Kreuz darauf – die Erpeler Ley. Auf der anderen Seite des Flusses stand das Gegenstück des Brückenpfeilers. Auch eine Art von Rheinromantik, dachte Alban. Mit moderner Zeitgeschichte verbunden.
Er bog links ab und gelangte in den Ort. An der Erpeler Bahnhaltestelle hielt er an und suchte nach seinem Handy. Vielleicht war Dennekamp mit der Adresse schon fündig geworden. Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter.
Sollte er Kessler anrufen? Vielleicht konnte der ihm die Adresse aus irgendeiner Akte heraussuchen? Nein, der würde ihm wahrscheinlich nur Vorwürfe machen und ihm die Information verweigern.
Alban stieg aus und spazierte durch eine leere, schmale Straße in die Richtung, wo er die Mitte des Dörfchens vermutete. Er erreichte einen kleinen Platz mit restaurierten Fachwerkhäusern. In der Mitte erhob sich eine von Metallbänken eingekreiste Platane. In ihrem Schatten war ein gewaltiges Mosaik in das Pflaster integriert, daneben stand ein alter Brunnen. Alban passierte die Rückseite einer Kirche und gelangte an ein rot und weiß gestrichenes Gebäude, das sich bei näherer Betrachtung als Rathaus entpuppte.
Auf dem ganzen Weg begegnete er keinem Menschen. Hier ließ es sich bestimmt zurückgezogen leben – vor allem wenn man es darauf anlegte, sich in romantische Stimmung hineinzuträumen.
Er kehrte zum Wagen zurück und suchte den Autoatlas heraus, den er kaum noch benutzte, seit er das Navigationssystem besaß.
Der Rhein floss nordwärts und beschrieb auf der Höhe von Erpel eine Kurve in Richtung Westen. Er prallte an die Hänge nördlich von Remagen, das Erpel genau gegenüberlag, kam dann in gerader Linie an Oberwinter, Rolandseck und Bad Honnef vorbei, um am Drachenfels wieder etwas nach links abzuknicken. In dieser Schrägrichtung, die einem Zeiger auf der Elf ähnelte, passierte er Königswinter und Bad Godesberg, wurde auf der Strecke an Bonn vorbei etwas kurvig und scherte hinter Niederkassel dramatisch in Richtung Osten aus. Und dort oben, nördlich von Bonn, war am rechten Ufer Dagmar Dennekamps Leiche gefunden worden – viele kurvige Kilometer von Erpel entfernt.
Wo auch immer sie ins Wasser geworfen worden war, es war bestimmt nicht hier unten geschehen, sondern irgendwo dort oben. Wahrscheinlich in Bonn.
Dort, wo Dagmar Dennekamps Ehemann lebte. Wo sie ihre Schreibgruppe besucht hatte.
Und wo sie vielleicht noch andere Menschen kannte.
Alban versuchte auf der Rückfahrt immer wieder, Dennekamp anzurufen – ohne Erfolg. Als er zu Hause ankam, stand Simones Laster in der Auffahrt, und als er die Haustür öffnete, kam sie gleich aus ihrem Zimmer.
Dann saßen sie in der Küche, Simone kochte Kaffee, und Alban erzählte, was er über Dagmar Dennekamp erfahren hatte: die Information über die Schreibgruppe, die Tatsache, dass sie früher in Dennekamps Antiquariat ausgeholfen hatte, Dennekamps Geschäfte als Zuschussverleger.
An dieser Stelle nickte Simone. »Das mit dieser Zuschussverlegerei kenne ich. Da gibt es Verlage, die gaukeln Möchtegernschriftstellern vor, dass sie es zum Bestsellerautor bringen können, aber dann nehmen sie ihnen erst mal ein paar tausend Euro ab.«
»Das hört sich an, als hättest du es selbst erlebt.«
»Nein, aber meine Kollegin Anita. Sie hat einen Krimi geschrieben, der im Baumarkt spielt, und dann hat sie keinen Verlag gefunden, bis sie auf so eine Anzeige stieß.«
»War das Dennekamps Verlag?«
»Nein, der war in Frankfurt, glaube ich.«
Alban erzählte weiter. Als er zu den lyrischen Tagebüchern kam, legte er die Jutetasche und den Stapel Notizbücher auf den Tisch.
Er griff zu einer der Chinakladden. »Das hier ist ihr letztes Tagebuch«, erklärte er.
Simone nahm es. »Darf ich es lesen?«
»Ich denke schon. Dennekamp hat es mir ja auch erlaubt.«
Simone schlug das Buch auf und las stirnrunzelnd ein paar Zeilen.
»Kurz vor ihrem Tod hat sie ein seltsames Gedicht geschrieben.« Alban beugte sich zu ihr, schlug die Seiten um und deutete auf die
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