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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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geahnte Regionen der Welt der Töne …«
    Er hielt inne. Was beschrieb die Dichterin da? Händels Arie? Nein – die war eher schlicht und einfach.
    »Lockst mich, zwingst mich zu folgen deiner Verheißung, bis auf dem höchsten Gipfel du anhältst bei der Fermate …«
    Alban holte die Partitur aus der Mappe und verglich sie mit den blumigen Worten. Die Solostimme ähnelte tatsächlich einer Girlande, und sie kam an einem musikalischen Haltepunkt, an einer Fermate, zu stehen.
    Er überlegte. Dagmar Dennekamp besaß eine Aufnahme von der unbekannten Arie, aber nur von der Begleitung. Der Gesang fehlte. Nun beschrieb sie in ihrem schwülstigen Text die Solostimme.
    Dafür gab es nur zwei Erklärungen: Entweder hatte sie die Partitur besessen und war so musikalisch, dass sie sich aufgrund des Notenbildes die Musik vorstellen konnte. Oder Dagmar Dennekamp hatte die Arie gehört. Nicht nur die Begleitung, sondern das komplette Stück. Wie es in der Partitur stand.
    Alles passte zusammen. Die Streicherakkorde, die Alban selbst schon so oft beschäftigt hatten. Dann kam die Solostimme mit der langen Girlande von Tönen. Es wurde sogar angedeutet, dass sie schwer zu singen war. »Erklimmst nie geahnte Regionen der Welt der Töne …«
    Alban suchte die Entsprechung in der Partitur. Tatsächlich arbeitete sich der Gesang wellenförmig nach oben, bevor er zum höchsten Ton gelangte – dem Moment des Innehaltens.
    Alban legte die CD in den Player. Erneut lauschte er der Arienbegleitung. Diesmal setzte er jedoch alles daran, das Stück innerlich zu vervollständigen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Solostimme dazu klang. Am Ende war er sich absolut sicher, dass Dagmar Dennekamp das Stück in Worte gefasst hatte. Sie hatte es natürlich nicht auf wissenschaftliche, analytische Weise beschrieben, sondern sie hatte versucht, der Wirkung lyrisch näherzukommen.
    Das Orchesternachspiel klang aus. Stille umfing Alban. Sein Blick fiel auf den Stapel seiner Rezensions-CDs. Ganz oben lag das Mozart-Requiem mit der Multimedia-Spur.
    Und plötzlich fiel ihm ein, was Simone vor ihrem Aufbruch nach Köln gesagt hatte.
    Es sollte auch dir nicht entgangen sein, dass man auf einer CD alles Mögliche speichern kann, auch mehrere Sachen gleichzeitig.
    Alban nahm die gebrannte CD, steckte sie in das Laufwerk und klickte auf das Arbeitsplatz-Symbol. Ein Fenster öffnete sich.
    Er ließ sich den CD-Ordner anzeigen, und eine Liste wurde sichtbar. Sie umfasste eine Datei, die »Track1« hieß, und einen Ordner mit dem Namen »Daten«. Alban stieß darin auf zwei weitere Dateien: »lasca.wav« und »d.avi«.
    Alban spürte, wie ihn Nervosität erfasste. Was hatte das zu bedeuten? War das die Musik, die auf der CD war?
    Er zielte auf die wav-Datei und tippte mit dem Zeigefinger zweimal auf die Maus. Ein Programm öffnete sich. Nach ein paar Sekunden ertönte aus den Lautsprecherboxen, die in den Bildschirm integriert waren, Musik. Die Arie. Die Streicherbegleitung. Nichts Neues.
    Alban schloss das Programm. Dann startete er die avi-Datei.
    Ein Quadrat erschien auf dem Bildschirm, und darin war etwas Verschwommenes zu erkennen. Einen Moment lang stand es still, dann begann es sich zu bewegen. Alban kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an.
    Eine dunkelhaarige Gestalt, die in einem eigenartigen Kostüm steckte. Im Hintergrund konnte Alban wieder, etwas undeutlich und blechern, die Streicher hören, und ihm wurde klar, dass die Gestalt die Arie sang. Es war die Passage, in der sich die Solostimme hinauf und noch weiter hinaufschraubte.
    Es war nicht auszumachen, ob der Mensch in dem Quadrat ein Mann oder eine Frau war. Er trug etwas auf dem Kopf, das bei jeder Bewegung leicht schwankte. Etwas Giftgrünes, eine Art Federschmuck. Deutlich erkannte Alban den Mund, eine schwarze Fläche, die sich, von roten Lippen umrandet, vergrößerte und verkleinerte.
    Alban konzentrierte sich auf die Stimme. Die Aufnahmequalität war erbärmlich. Es dauerte nur wenige Sekunden, da erstarrte das Bild, und die Musik verstummte. Die Gestalt hielt den Mund noch weit offen, das Gesicht eine verzerrte Maske.
    Alban klickte auf eine Stelle, die wie der Play-Knopf an einem CD-Player aussah, und brachte den Computer dazu, das Schauspiel zu wiederholen – immer und immer wieder. Trotz der schlechten Tonqualität wurde Alban klar: Die Stimme, die hier zu hören war, sang fantastisch. Es musste ein großartiger Countertenor sein. Oder eine

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