Das Gift der Engel
Zeit schien zu vergehen.
Schließlich stolperte Alban benommen ins Haus, wurde jedoch sofort von einem Schwächegefühl übermannt.
Nur kurz ausruhen, dachte er. Nur kurz …
Er öffnete die Augen, und die alte Pendeluhr an der Wand zeigte halb zwei.
Er spürte den kühlen Windhauch von der Terrasse her, doch er war nicht imstande, aufzustehen und sie zu schließen.
Ausruhen, dachte er.
Nur einen Moment.
Ein helles Gesicht beugte sich über ihn. Er wollte sich aufsetzen, doch ein zuckender Schmerz ließ ihn wieder nach hinten sinken. Sein Bett war ungewohnt hart, und sein Hemd beengte ihn.
Warum trug er sein Hemd?
»Nikolaus«, rief Simone, und ihre Stimme übertönte das Dröhnen in Albans Ohren. »Nikolaus, kannst du mich hören?«
»Natürlich kann ich dich hören«, brummte Alban, »warum sollte ich plötzlich taub geworden sein?«
»Vielleicht aus demselben Grund, weshalb du auf dem Fußboden liegst? Bist du gestürzt?«
Alban riss die Augen auf. Vor seiner Nase wuchs ein braunes Stuhlbein aus dem Teppich. Alles in ihm drängte, nach oben zu kommen, und er versuchte es ein zweites Mal. Wieder der Schmerz. Simone stützte ihn.
»Bist du okay? Was ist passiert?«
Alban atmete tief durch. »Ich weiß nicht. Da war jemand im Garten …«
»Ein Einbrecher? Soll ich die Polizei holen? Oder besser erst einen Arzt?«
»Ich war draußen …«
»Die Terrassentür war offen, als ich kam.«
Alban zog die Beine an und stemmte sich hoch. »Geht schon.«
»Nun sag doch schon, was passiert ist.«
Er ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Ich bin mit einem Glas Wein auf die Terrasse gegangen, und dann hat mir jemand einen Schlag in den Rücken verpasst … Wie spät ist es eigentlich?«
»Kurz nach zwei«, sagte Simone. »Du kannst von Glück sagen, dass ich so früh zurückgekommen bin. Peter ist ein Langweiler. Ständig fängt er irgendwelche Vorträge über Musik an.« Sie sah sich um. »Ob der Einbrecher was gestohlen hat?«
Alban konzentrierte sich einen Moment. Dann stand er auf und bewegte sich langsam in Richtung Diele.
»Hier scheint sich nichts verändert zu haben«, sagte er. »Schau doch mal in deinen Zimmern nach.«
Simone öffnete ihre Tür und verschwand dahinter. »Ich glaube nicht, dass was fehlt«, rief sie.
»Ich gehe mal nach oben«, sagte Alban.
»Sei vorsichtig!«
»Glaubst du, er ist noch da?«
»Du wirkst ziemlich wacklig. Soll ich nicht lieber gehen?«
Alban schüttelte den Kopf und machte sich langsam auf den Weg. Während er eine Stufe nach der anderen erklomm, entstand vor seinem geistigen Auge ein grauenhaftes Bild: sein Zimmer, völlig demoliert in einem Anfall von wahnsinnigem Vandalismus. Die CDs, Schallplatten und Bücher auf einem Haufen, die Regale umgekippt, die Geige in Trümmern …
Er drückte die Klinke hinunter. Dunkelheit empfing ihn.
Die Erinnerung kehrte zurück. Jetzt wusste er wieder, womit er sich beschäftigt hatte, bevor er in den Garten gegangen war. Und als er sein Zimmer verlassen hatte, brannte Licht. Jetzt war alles dunkel.
Er griff neben die Tür an die Wand und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Zimmer sah unverändert aus. Kein einziges Buch im Regal schien zu fehlen. Der Geigenkasten stand akkurat in der Ecke. Alban genoss die Welle der Erleichterung.
Simone kam herauf. »Und?«
»Nichts.«
»Soll ich nicht vielleicht doch die Polizei holen?«
Alban ging zum Schreibtisch und schaltete die Leselampe an. Auf der polierten Holzfläche lag das Material, das er durchgesehen hatte. Dagmar Dennekamps Tagebücher. CDs. Die Arie. Die Partitur lag nach wie vor an ihrem Platz.
Alban hatte wieder das Bild der dunkelhaarigen singenden Gestalt vor Augen. Rote Lippen, die Töne formten …
Und plötzlich war ihm klar, was passiert war.
Die CD fehlte. Nur die Plastikbox lag noch auf dem Schreibtisch.
Und sie war leer.
14
Die Türklingel mischte sich in einen wilden Traum, in dem Lea, in ein feuerrotes Kleid gehüllt, voller Angst vor einem Einbrecher floh. Alban saß stocksteif auf dem Stuhl im Esszimmer, unfähig sich zu bewegen. Und dazu schallte ein seltsamer Gesang durchs Haus.
Wieder klingelte es.
Er erwachte, stieg mühsam aus dem Bett, nahm mechanisch den Bademantel, der an der Tür hing, und zog ihn an, während er die Treppe hinunterlief. Unten angekommen, überfiel ihn ein Schwindelgefühl. Er öffnete die Tür; draußen stand Kessler.
»Ist es gestern etwas später geworden?«, fragte der Hauptkommissar,
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