Das Gift der Engel
offensichtlich guter Laune.
Als Kessler die Diele betrat, kam Simone. Ihr Bademantel war rosa, und an den Füßen trug sie graue puschelige Pantoffeln in Katzenform.
»Guten Morgen, Frau Lenz.« Kessler hielt der verschlafenen Simone die Hand hin. Dann wandte er sich wieder Alban zu.
»Ich sehe schon: Das versprochene Frühstück ist noch nicht fertig. Aber einen Kaffee wird es ja wohl geben. Soll ich ihn vielleicht selbst machen? Zeig mir die Kaffeemaschine.«
»Du kannst gern einen Kaffee haben«, sagte Alban und räusperte sich. »Aber ansonsten …«
»Was ansonsten?«
»Ich fürchte, du bist umsonst gekommen.«
Kessler sah Alban überrascht an. »Was? Du hast mich doch zu nachtschlafender Zeit angerufen und mir erzählt, du hättest einen grandiosen Beweis dafür, dass die Fälle Dennekamp und Joch zusammenhängen. Du hast mich ja geradezu hergezwungen. Und das an meinem freien Tag. Ich habe es sogar geschafft, den Besuch bei meiner Schwiegermutter zu verschieben. Nicht dass mir das was ausmachen würde …«
»Ich bin dir auch sehr dankbar, dass du es möglich gemacht hast, lieber Gerhard, aber …« Alban wechselte einen schnellen Blick mit Simone. »Ich fürchte, der Beweis ist nicht mehr da.«
Kesslers Gesicht verfinsterte sich. »Was für ein Beweis soll das gewesen sein?«
»Eine CD. Eine selbst gebrannte. Es war Musik drauf. Die Arie, die mir Zimmermann gebracht hat. Ihre Streicherbegleitung. Ich habe sie von Martin Dennekamp. Er hat gesagt, sie habe seiner Frau gehört. Dagmar Dennekamp hat die Musik gekannt.«
Kessler schüttelte den Kopf. »Einen Moment. Ganz langsam. Kannst du mir das bitte noch mal in Zeitlupe erklären?«
Alban wiederholte, was er gesagt hatte. Kessler ging unterdessen in die Küche und ließ sich am Tisch nieder. Simone begann an der Kaffeemaschine zu hantieren.
»Nikolaus, Nikolaus … Ich glaube, du machst den Fehler, davon auszugehen, dass diese Arie ein unbekanntes, bisher nie gehörtes Stück ist. Vielleicht ziehst du das Ganze von der falschen Seite auf. Vielleicht hast du ja nur nicht mitbekommen, dass dieses Stück doch ganz bekannt ist – wenn auch vielleicht nicht so berühmt wie Beethovens Neunte. Und vielleicht willst du nur nicht einsehen, dass du, gerade du als großer Musikkritiker, es nicht kennst. Ich gebe dir einen guten Rat, und ich weiß, dass ich mich wiederhole: Lass es.«
Alban kam sich vor wie ein Schüler, der unvorbereitet in der Abiturprüfung stand.
»Ich hatte den Beweis«, beharrte er. »Aber er wurde gestohlen. Ich hätte dich anrufen sollen, aber ich habe es in der Aufregung vergessen.«
»Gestohlen«, wiederholte Kessler, und sein Blick, der auf Alban ruhte, wurde leer.
»Heute Nacht. Mich hat sogar jemand angegriffen.«
»Du meinst, nach unserem Telefonat?«
Alban umriss in kurzen Worten, was passiert war. »Und er hat nichts anderes genommen als die CD.«
»Und da bist du sicher?«
»Natürlich.«
»Schau doch noch mal genau nach. Vielleicht hast du die CD nur verlegt.«
»Ich glaube, du verstehst mich nicht, Gerhard.«
»Ich verstehe sehr gut. Und ich verstehe, dass du mich verkohlen willst.«
»Aber Herr Kessler!«, rief Simone.
»Ich habe es dir von Anfang an gesagt, Nikolaus: Du siehst Gespenster. Zimmermann ist schuldig, und er wird seine Schuld bald gestehen.«
»Und den Einbruch habe ich mir nur eingebildet? Und den Schlag, den ich abbekommen habe?«
Kessler stand auf und ging in die Diele. »Ich kann dir nur raten, mal zum Arzt zu gehen, Nikolaus. Ich mache mir wirklich Sorgen um deine Gesundheit.«
Er öffnete die Tür und verließ das Haus. Alban sah ihm nach, wie er den kleinen Weg zwischen Eingang und Gartenpforte entlangging – zielstrebig auf sein Auto zu. Ohne sich umzudrehen, stieg er in seinen Wagen und fuhr davon.
Alban schloss die Tür und sah Simone an. »Eigentlich kann ich es ihm nicht verdenken. Ich habe ihn heute Nacht, als ich dieses Video auf der CD entdeckt habe, tatsächlich sehr unter Druck gesetzt. Erst habe ich ihn aus dem Bett geworfen, und dann habe ich so lange auf ihn eingeredet, bis er zugesagt hat, heute Vormittag zu kommen.
Simone ging in die Küche zurück, holte Geschirr aus dem Oberschrank und deckte den Tisch. »In einem Punkt hat Herr Kessler natürlich recht«, sagte sie. »Du solltest zum Arzt gehen. Oder sogar ins Krankenhaus.«
Alban ging nicht darauf ein. Er fühlte sich gut. »Da war diese Gestalt, die unsere Arie sang. Im Kostüm. Das Kostüm sah aus wie von
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