Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
lachten, aber es dauerte nicht lange, da verwendeten einige seiner neuen Kameraden allmählich selber diese Ausdrücke, Hector zu Ehren.
Was ihn jedoch am beliebtesten bei ihnen machte, war seine Fähigkeit, ihnen Rätsel aufzugeben oder ihnen etwas vorzulesen – die lustigen Verse des Beag Hickory zum Beispiel oder manchmal, auf Pollys besonderen Wunsch, die wundersamen Geschichten aus Houndseckers Märchen von Feen und Frohnaturen . Das Buch hatte einer der Jungen bei einem nichts ahnenden Buchhändler der Stadt »erstanden«.
Das Leben bei Lottie war also nicht so unangenehm, wie Hector es sich anfangs vorgestellt hatte. Er bekam zu essen, er hatte ein Dach über dem Kopf und er konnte mit seinen Rätseln Geld verdienen. Die Jobs, die die anderen Jungen zu diesem Zweck machten, waren zahlreich und von unterschiedlichster Art. Manche gingen über die Brücke und putzten vornehmen Herren die Schuhe, andere fegten die Straßenkreuzungen oder bettelten einfach, und – überflüssig zu sagen – alle klauten. Ein begabter Taschendieb war Hector nicht gerade, und so war er am Anfang von Tür zu Tür gegangen, um Hühnerfüße zu verkaufen. Aber jetzt hatte er seine Rätsel.
Solange man vor den Mahlzeiten sein Tischgebet sprach, in Mrs Fitchs Gebete einfiel, wann immer ihr zum Beten zumute war (oft), und in ihre Kirchenlieder, wenn sie sang (oft und laut), und solange man die regelmäßig anfallenden Arbeiten erledigte, ließ sich das Leben aushalten. Gut, er musste sich mit Läusen und Flöhen abfinden, mit üblen Gerüchen und den Gefahren der Straße, aber das war der Preis der Freiheit. Er hatte die langen, eintönigen Tage mit seinem Lehrer im Schulzimmer nicht vergessen, als er Verben konjugieren, Substantive deklinieren und dabei immer auf der Hut sein musste vor dem Stock, den der Lehrer allzu schnell bei der Hand hatte.
Doch abends, wenn die Dunkelheit hereinbrach, sank auch Hectors Stimmung. Dann vermisste er seinen Vater besonders schmerzlich und die Wut und ein zunehmendes Rachebedürfnis nagten an seinem Herzen. Außerdem trug er schwer an der Bürde seiner geheimen Vergangenheit. Er wagte es nicht, Lottie seinen Familiennamen zu nennen, nicht mehr jetzt, nachdem dieser Name durch seine Verbindung zum Gin befleckt war. Sie hätte ihn sofort auf die Straße gesetzt! In solchen düsteren Stunden war Polly seine Rettung. Ihr heiteres und unaufdringliches Wesen brachte ihn für gewöhnlich wieder ins Lot.
Hector nutzte jede Gelegenheit, Tag und Nacht, um nach Truepin zu suchen. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass der Gauner die Stadt wahrscheinlich längst verlassen hatte, aber eines Tages, daran musste er nur fest glauben, würde er, Hector, das schreckliche Unrecht, das seiner Familie angetan worden war, wiedergutmachen. Oft kam er erst spätnachts ins Heim zurück, frierend und hungrig, doch Polly, die immer auf ihn wartete, drang nie in ihn, sondern brachte ihm wie selbstverständlich etwas zu essen. Bei anderen Gelegenheiten, wenn Hector mit ihr am Küchentisch saß und ihr bei Briefen und anderen Schreibarbeiten half, sah sie ihn oft fragend an, als wollte sie ihn auffordern, all ihre ungestellten Fragen zu beantworten, aber er tat es nie.
Nur einmal sagte sie doch etwas. Es war nach Mitternacht und Hector saß in sich zusammengesunken, blass und müde am Tisch.
»Hector«, begann sie behutsam, »ich weiß nicht, wen oder was du in diesen Winternächten suchst, und ich will es auch nicht wissen, ich sehe nur, dass es dir nicht guttut.«
Hector öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch sie hob beschwichtigend die Hand.
»Ich bin deine Freundin. Und ich kann’s nicht leiden, wenn ich dich so sehe. Manchmal muss man die Vergangenheit einfach hinter sich lassen, sonst zerfrisst sie einen.«
Hector wusste, dass sie recht hatte. Könnte ich bloß alles vergessen, dachte er. Aber dann sah er wieder den leblosen Körper seines Vaters im Schmetterlingshaus vor sich, und ihm war klar, dass er seine Suche bis zum bitteren Ende fortsetzen musste – wo immer dieses Ende sein mochte.
Kapitel 10
Teufelsschweiß
L
ottie Fitch, die in der Küche saß, legte das Blatt mit dem Aufruf zur Seite und nahm sich einen Augenblick Zeit für sich selbst. Sie spürte – am stärksten morgens – immer wieder heftiges Verlangen nach dem Gin, der sie so viele Jahre lang beherrscht hatte, doch dann faltete sie die Hände und betete mit ganzer Inbrunst um die Kraft, dem Verlangen zu widerstehen.
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