Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
ein weiches, besticktes Nachthemd und eine Schlafmütze an, er stieg ins Bett, entfernte sein Glasauge und strich zärtlich darüber, bevor er es in einen kleinen Samtbeutel auf dem Nachttisch gleiten ließ.
Aus einer Schublade nahm er das Nordstadt-Journal (auch dort hatte man ihm sehr viel mehr gezahlt als erwartet!). Obwohl der kürzliche Niedergang des Augustus Fitzbaudly noch immer die Schlagzeilen beherrschte, war er mehr an der Spalte mit den Gesellschaftsnachrichten interessiert. Er blätterte, bis er zu einer halbseitigen Abbildung kam, Damen und Herren beim Tanz, und las noch einmal die Bildunterschrift:
»Damen und Herren der Nordstadt von Urbs Umida amüsieren sich auf dem kürzlich abgehaltenen Weinhändler-Ball (sämtliche Weine wurden vom Weinhaus Faulkner in der Vine Street geliefert)«
Mit breitem Grinsen sah er sich das Bild an. Bald werde auch ich dabei sein, dachte er, sehr bald.
Kapitel 9
Der Gastwirt in der Klemme
E
ins pro Penny!«, schrie Hector. »Ein Penny! Wer fordert mich heute mit einem Rätsel für einen Penny heraus?«
Hector stand auf einem Podest in der Mitte des Fiveways-Platzes. Der Platz war ihm inzwischen wohlvertraut. Hector war schmaler geworden und seine Kleider sahen schäbiger aus als früher, trotzdem war er heiter und voller Energie. Prüfend wanderten seine dunklen Augen über die kleine Menschenansammlung vor ihm. Nicht sehr viele heute Morgen, dachte Hector, aber irgendjemand würde immer bereit sein, sich von einem oder zwei Pennys zu trennen. Und wirklich, bald kamen die Rätsel Schlag auf Schlag.
»Was kann ein Mann viele Male brechen, ohne es zu berühren?«
»Sein Versprechen«, antwortete Hector. »Gleich noch eins!«
»Gib mir zu essen und ich werde leben; gib mir Wasser und ich werde sterben. Wer bin ich?«
»Feuer. Noch eins!«
»Was kann ein Handwerker herstellen und man sieht es doch nicht?«
»Lärm«, sagte Hector. »Noch eins?«
Ein großer Mann trat vor, die Arme über der fassartig gewölbten Brust verschränkt. »Das kriegst du nicht raus«, sagte er. »Ich hab’s in einem Buch gefunden.«
Aus der Menge ertönten Ah und Oh, man applaudierte. Man stelle sich vor, ein Buch!
»Mal sehen«, sagte Hector gelassen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die, die sich am sichersten waren, sich gewöhnlich als die größten Nieten herausstellten. »Lasst hören.«
»Welcher Pfaff ist kein Pfarrer?«
Die Menge lachte.
Hector legte die gestreckten Finger aneinander, rollte die Augen himmelwärts und tat, als müsste er scharf nachdenken. »Nun«, sagte er gedehnt, »das wird wohl der Dompfaff sein.«
Die Leute jubelten und klatschten und Hector grinste übers ganze Gesicht. Das Rätsellösen, früher kaum mehr als ein angenehmer Zeitvertreib zwischen ihm und seinem Vater, erwies sich nun als einträgliche Fähigkeit. Manchmal kam es Hector fast unrecht vor, dafür Geld zu nehmen – es bereitete ihm ja Freude und hob für eine Weile die düstere Stimmung, die seit dem Verlust seines Vaters auf ihm lag. Aber Polly, die sich oft für ein paar Minuten von ihrer Tagesarbeit wegstahl und auf die Straße kam, um Hector zuzuhören oder ihm etwas zu essen zu bringen, erklärte ihm, das sei blanker Unsinn und er grüble einfach viel zu viel über die Dinge nach. Während wieder ein Penny vor Hectors Füße flog und er sich danach bückte, drang eine unbekannte Stimme durch den Lärm:
»He, junger Mann! Ich habe ein Rätsel für dich.«
Hector sah sich um. Er konnte nicht erkennen, wem die Stimme gehörte.
»Und wie lautet es, Sir?«, rief er. In der Menge um sich herum bemerkte er eine Gestalt, deren Gesicht wegen ihres komisch geformten Hutes halb verborgen war. Die Stimme hatte älter geklungen als die eines Jungen in Hectors Alter, aber die Stimme eines Erwachsenen war es auch nicht gewesen.
»Es heißt ›Der Gastwirt in der Klemme‹«, sagte der Fremde, »und es geht so:
In einer dunklen, kalten Nacht
Steh’n vor der Herberg’ Tür
Zehn müde hungrige Wandersleut’
Und bitten um Nachtquartier.
›Neun Zimmer hab ich nur.‹
Der Wirt spricht ohn’ Verweilen.
›Für acht von euch je ein eigenes Bett,
Das neunte müssen zwei sich teilen.‹
Tumult bricht los,
Der Wirt sieht ein:
Von diesen tapf’ren Männern
Gehn zwei nie in ein Bett hinein!
Schnell hat die Lösung er parat
– was für ein kluger Mann –,
Zu aller Gäst’ Zufriedenheit
Erklärt er seinen Plan.«
Der Bursche hielt kurz inne. »Und das ist das Rätsel«,
Weitere Kostenlose Bücher