Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
Tastend fuhr sie mit der Zunge durch ihren Mund, über die Zähne und die Lücken dazwischen. Sie dachte an Hector und seine schönen Zähne, und ein trauriges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Seit Hectors Ankunft vor fast zwei Monaten musste Lottie wieder mehr an ihren eigenen Sohn denken. Ludlow. Damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, musste er ungefähr so alt wie Hector gewesen sein. Ihr neu entdecktes Gewissen plagte sie, wenn sie daran dachte, wie grausam Ned und sie ihn damals vertrieben hatten. Sie konnte dem Jungen kaum einen Vorwurf machen, dass er weggelaufen war.
Sie waren völlig ungeeignete Eltern gewesen. So vieles aus Lotties früherem Leben stand nur noch in verschwommenen Bildern vor ihren Augen – es machte ihr sogar Mühe, sich genau vorzustellen, wie Ludlow aussah. Er hatte doch braune Augen? Oder waren sie grün? Sie konnte ja Ned fragen. Nein, er würde es wahrscheinlich auch nicht wissen. Wenn schon Lotties Verstand ziemlich verwirrt war, stand es mit seinem zehnmal schlimmer. In all den Jahren hatte er sie beim Trinken stets überboten, so viel stand fest.
Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sich Lottie, wie viele Urbs Umidaner, wenig für Gott und seine geheimnisvollen Wege interessiert. Aber jene Winternacht, damals, als ihre andere Hälfte (weder die bessere noch die schlechtere) Ned in den Foedus fiel, wurde für beide zum Wendepunkt in ihrem Leben. Es hatte geschneit, und sie waren an diesem Abend nur deshalb zum Fluss gekommen, weil sie hinter ihrem Sohn Ludlow herjagten. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatten versucht, seine Zähne zu verkaufen. Natürlich wollte sich Ludlow nicht fangen lassen, und zwar nicht nur deshalb, weil sich die Zähne noch in seinem Mund befanden, sondern auch, weil er sich keinen Illusionen hingab, welchen Stellenwert er in der Liebe seiner Eltern einnahm: Er rangierte irgendwo hinter Gin und Geld. Die Verfolgungsjagd gipfelte schließlich in Ludlows Kampf um sein Leben, den er mit seinem Vater am Flussufer austrug. Ned verlor den Halt und stürzte in den Fluss, Ludlow entkam.
Kaum war Neds Kopf untergetaucht, hatte Lottie zwar erwartungsgemäß gejammert und geklagt, sich ansonsten aber recht schnell mit seinem Ableben abgefunden. Zum Glück für Ned hatten sich auf den ganzen Tumult hin Leute um die Unglücksstelle versammelt, und, man sollte es kaum glauben, einer hatte ein Seil dabeigehabt. Er warf es Ned zu, dem es allerdings eher zufällig als mit gezielter Anstrengung gelang, danach zu greifen. So wurde er ans Ufer gezogen.
»Ich kann meine Beine nicht mehr spüren!«, hatte er gestöhnt, während man ihn die Böschung hinaufschleifte. Lottie, die ihm nicht glaubte, trat hart gegen sein Schienbein, aber er zuckte tatsächlich nicht mit der Wimper. Höchstwahrscheinlich waren seine Beine im eiskalten Wasser gefühllos geworden, doch das erklärte nicht, warum er seit diesem Tag keinen Schritt mehr gelaufen war. Lottie war enttäuscht über diesen Ausgang, genauer gesagt von Neds Überleben, aber die Rufe aus der versammelten Menge – ›Ein Wunder!‹ und ›Gott sei gelobt!‹ – hatten etwas in ihr ausgelöst. Und in diesem Augenblick hatte sie dort, am verschneiten Ufer des Foedus, ihre erste Vision gehabt.
Vor ihr war, auf Knien liegend, die geisterhafte Gestalt eines kleinen Jungen erschienen, er weinte und suchte mit seinen dürren ausgestreckten Ärmchen im Schnee nach etwas Essbarem. Das hatte Lottie plötzlich zu Tränen gerührt. In Wahrheit war das Kind keine Erscheinung, sondern ein Junge aus Fleisch und Blut, nur ungewöhnlich bleich. Im Gedränge war ihm eine heiße Kastanie zu Boden gefallen, die von den vielen Füßen im Nu zertreten worden war. Dennoch suchte der Kleine weiter im Schnee danach.
Lottie wandte sich ab und sah, wie man Ned zum Flinken Finger , seiner Stammkneipe, schleppte, um ihn mit einem wärmenden Drink vor dem Kamin wieder auf die Beine zu bringen. Als sie sich noch einmal nach dem Jungen umdrehte, war er verschwunden. Sie folgte seinen scheinbar geisterhaften Spuren im Schnee und kam schließlich zur Hookstone Row, fünf oder sechs Straßen vom Fluss entfernt. Die Spuren führten direkt zu einem großen, leer stehenden Haus, in dem überall kleine elternlose Jungen herumliefen. Erst jetzt, als sie in der Tür stand und all die schmutzigen kleinen Gesichter hoffnungsvoll auf sich gerichtet sah, spürte Lottie umso tiefer den eben erlittenen Verlust ihres eigenen Sohnes, und sie gelobte,
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