Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
Adelsgeschlechts der de Vandolins) als äußerst beliebter und gern gesehener Gast auf Dinnerabenden, Tanzveranstaltungen und Feiern. Er besitzt einen beneidenswerten Ruf als höchst unterhaltsamer Zeitgenosse voller Esprit und Inspiration, und außerdem ist er ein Held. Wer hat nicht vom tragischen Verlust seines linken Auges gehört, den er in einem Duell für eine verleumdete Frau erlitt? Doch Baron Bovrik de Vandolin zählt nicht zu der Sorte Mensch, die sich wegen einer solchen optischen Unannehmlichkeit vor der Öffentlichkeit verkriecht.
Was Lady Mandible betrifft, so dürfte sich eine Vorstellung wohl erübrigen. Zweifellos ist sie die schönste und geistvollste Lady, die je die Flure von Withypitts Hall, dem Familiensitz der Mandibles, erstrahlen ließ. Nicht nur für ihren Stil und Geschmack ist sie berühmt, sondern auch für ihre extravagante Lebensweise – dafür lieben wir Nordstädter sie! Bei der kürzlich erfolgten Renovierung von Withypitts Hall sollen keine Kosten gescheut worden sein. Das Resultat wird sich gewiss beim alljährlich stattfindenden Mittwinterfest der Mandibles präsentieren.
Der junge Lord Mandible, der sich seit dem tragischen Tod seines Vaters kaum mehr in der Stadt sehen lässt, verlässt Withypitts Hall, das sechs Rittstunden entfernt liegt, nur selten. Wegen seines verkrüppelten Beines fand er noch nie besonderen Gefallen an Feiern und Tanzvergnügen, und so dürfte er es eher mit Erleichterung sehen, dass Baron Bovrik Lady Mandible zu allen gesellschaftlichen Verpflichtungen begleitet.
Trotz des Umstands, dass viele junge Damen der Stadt angeblich von dem Baron verzaubert sind, scheint er unempfänglich für ihre Reize und widmet sich ganz der vor ihm liegenden Aufgabe. Es ist allgemein bekannt, dass ihm angetragen wurde, bei der Organisation des Mittwinterfestes der Mandibles zu helfen. Wir aus der Nordstadt von Urbs Umida sehen dem Fest mit freudiger Erwartung entgegen. Obzwar immer wieder ein prachtvoller Anlass, ist in diesem Jahr zu spüren, dass Lady Mandible dem Fest ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken wird.
Hector legte die zerknüllte Seite auf den Boden neben seine Matratze und beugte sich vor, um mit dem Finger zum hundertsten Mal das Profil dieses Barons Bovrik de Vandolin nachzufahren. Dann streckte er sich stirnrunzelnd auf der Matratze aus.
»Was bist du für ein Meister der Täuschung, Truepin«, murmelte er, während er seinen schwarzen Kokon zwischen den Fingern hin und her rollte. Denn falls diese Skizze gut getroffen war, hatte Hector kaum einen Zweifel, dass es sich bei Gulliver Truepin und Bovrik de Vandolin um ein und dieselbe Person handelte.
»Und wenn nicht«, sagte er laut, »bin ich es Papa zumindest schuldig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.«
Kapitel 12
Eine beunruhigende Begegnung
H
ector drückte sich eng an die Mauer und linste vorsichtig um die Hausecke, wo auf der Straße gerade eine schwarz glänzende Kutsche vorgefahren war. Wenn er auch nach außen ruhig und gelassen wirkte, so klopfte doch sein Herz heftig. Er beobachtete, wie der Kutscher absprang und den Schlag öffnete. Der Fahrgast, ein Mann, hatte einen Spazierstock mit Messinggriff und Messingspitze, mit der er forsch auf die Pflastersteine schlug. Hector sah, dass an seinen Schuhen große Goldschnallen funkelten. Plötzlich zerrte ein Windstoß am Umhang des Mannes und schlug ihn zurück, sodass sich darunter eine ungewöhnliche Farbenvielfalt zeigte: ockergelbe Kniehosen mit dunkleren Seidenschnüren und eine Weste in Olivgrün. Der Mann blieb einen Augenblick stehen und bewunderte sein Spiegelbild im Fenster, dann rückte er die Klappe über seinem linken Auge zurecht und zupfte an seinem gezwirbelten Schnurrbart, bevor er das Gebäude betrat.
Da sich der Kutscher umgedreht hatte, schlich Hector über den Gehweg zur Haustür. Er schnupperte, all seine Sinne hellwach – roch es nicht nach Zitrone? Als er die Namen auf der Fensterscheibe las, kniff er unwillkürlich die Lippen zusammen. Badlesmire und Leavelund, Anwälte und Auktionatoren.
Eine Mischung aus Glück und Eingebung hatte ihn hierher geführt. Das Nordstadt-Journal verfolgte jeden von Lady Mandibles Schritten – und damit auch jeden des Barons. Dank des Journals wusste Hector ebenfalls, wo sich die beiden aufhielten, wenn sie in der Stadt waren: in Lady Mandibles Stadthaus. Den ganzen Tag hatte er das Haus nicht aus den Augen gelassen. Als schließlich der Abend hereinbrach, wurde seine
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