Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
sie stattdessen, »ich habe dir einen Vorschlag zu machen. Es soll nicht heißen, ich gäbe einem Gefangenen nicht eine faire Chance. Ich habe also beschlossen, dass du, falls du folgendes Rätsel lösen kannst, frei bist. Kannst du es nicht … wird deine Bestrafung schrecklich werden.«
Bovrik hob die Augenbrauen, Hector atmete hörbar ein. Hatte er recht gehört? Ein Rätsel? Hatte sie »Rätsel« gesagt? Doch nicht etwa sein Rätsel! Ungläubig sah er zu, wie sie Bovrik ein Blatt Papier reichte, dasselbe Papier, das er der Lady vor kaum einer Stunde selbst gegeben hatte.
»Lest es uns vor, Baron«, befahl sie.
Bovrik grinste den Gefangenen höhnisch an. »Mylady wönscht, dass du dieses Rätsel löst, wenn du deine Freiheit erlangen willst.«
»Schön«, erwiderte der Fremde und stand auf. »Ich mag knifflige Aufgaben.«
Hector bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Hör gut zu«, begann Bovrik. »Ein Mann kommt in ein Land, in däm die Menschen entweder stäts nur lögen oder stäts die Wahrheit sagen. Der Wanderer erreicht eine Weggabelong. Er weiß, dass die eine Straße in giftiges Sompfland föhrt, wo er einen langsamen, qualvollen Tod störbe, wenn er die Ausdönstungen der Sömpfe einatmen mösste; där andere Weg föhrt zu seinem Ziel, einer wonderschönen Stadt. Da es keinen Wegweiser gibt, weiß er nicht, welchen Weg er einschlagen soll. Er setzt sich an die Kreuzung und nach einer Weile kommen zwei Männer die Straße entlang. Einer von ihnen ist ein Ährlicher, der andere ein Lögner, doch der Wanderer weiß nicht, welcher der Ährliche ist. Um den richtigen Weg herauszofinden, darf er nor eine einzige Frage an einen der Männer richten. Er öberlegt einen Moment, dann stellt er eine simple Frage und korz darauf ist er auf dem Wäg zor Stadt.
Das Rätsel ist non«, sagte Bovrik mit einem raschen Blick auf Lady Mandible, die gespannt zugehört hatte, ihre Finger abwechselnd verschränkte und löste und ihre Ringe blitzen ließ. »Wie lautete die Frage und welchen der beiden Männer fragte er?«
Hector schlug das Herz bis zum Hals. Hätte er doch bloß gewusst, was Lady Mandible im Sinn hatte! Aber geschmeichelt von ihrem Interesse und fasziniert von ihrer kalten Schönheit, war es ihm gar nicht eingefallen, nach dem Zweck des Rätsels zu fragen. Stattdessen war er noch stolz darauf gewesen, es so kompliziert wie möglich zu formulieren. Er war benutzt worden! Und nun hatte dieser unschuldige Junge den Schaden. »Wer mit den Wölfen heult, wird selber einer«, murmelte er vor sich hin und dachte wieder an die letzten Worte seines Vaters. Zum ersten Mal kam ihm ein leiser Zweifel. All diese Gedanken, zusammen mit Lady Mandibles selbstgefälliger Miene, die deutlich ausdrückte, wie sehr sie mit diesem geschmacklosen Spielchen ihre Macht auskostete, erfüllten Hector mit Zorn.
Aber da meldete sich der Gefangene zu Wort. »Die Lösung ist einfach, guter Mann«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und einer reichlichen Portion Sarkasmus in der Stimme. Dann gab er die richtige Antwort.
Und noch während er sprach, fiel Hector plötzlich ein, was ihm an dem jungen Mann so bekannt vorkam: seine Stimme . Er war der geheimnisvolle Fremde, der ihm damals auf dem Platz in Urbs Umida ein Rätsel in Reimform gestellt hatte. Hector war fassungslos. Er erinnerte sich jetzt auch an die schemenhafte Gestalt in Pagus Parvus, die ihn so offensichtlich beobachtet hatte. War ihm der Fremde etwa die ganze Zeit gefolgt? So viel konnte ihm doch unmöglich an seiner Antwort auf das Rätsel mit dem klugen Gastwirt liegen? Was führte der Bursche im Schilde?
Als Bovrik auf dem Zettel vor sich die Lösung des Rätsels las, lief er rot an vor Wut. Hector dagegen konnte trotz seiner Betroffenheit über die wiederholten Begegnungen mit diesem Rätsellöser kaum seine Erleichterung verbergen. Dann sah er Lady Mandibles Gesicht, eine ausdruckslose Maske. Würde er nun Ärger bekommen?
Doch als sie seinen Blick auffing, zog sie nur die Schultern hoch und sagte: »Interessant … er ist klüger, als ich dachte.« Sie wandte sich ab und fügte hinzu: »Lasst den Wilderer trotzdem hier.«
Hector schluckte seinen Protest hinunter. Der Gefangene jedoch schien nicht so genau zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. »Aber Euer Ladyship«, sagte er ruhig, »ich habe die richtige Antwort gegeben. Ihr habt versprochen, in diesem Fall wäre ich frei.«
»Nun habe ich es mir eben anders überlegt«, sagte Lysandra obenhin,
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