Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
das Haar geglättet und in der schwingenden Geometrie des perfekten Sixties Girls geschnitten. Sie konnte nicht älter als vierzehn gewesen sein, als das Bild gemacht worden war. Auf dem zweiten Foto war sie im Bikini und biss in ein Eis am Stiel. Ein drittes, auf Illustriertenformat vergrößert, kam mir bekannt vor. Vielleicht hatte ich Biba in diesem weißen Kleid gesehen. Sie stand auf einer Butterblumenwiese und lächelte über die Schulter in die Kamera. Helles Sonnenlicht verwandelte ihr dunkles Haar in eine goldene Aureole. Auf dem vierten sah sie irgendwie älter aus, als sie jetzt war, und unglücklich. Ihr dunkles Haar floss in den Nerzpelz eines Mantels, der ihre Schultern umhüllte.
Ein kartonierter Umschlag, dessen Ränder vom Alter verschlissen waren, enthielt Bogen um Bogen von einem Hochglanzpapier, karoförmig bedeckt von passfotogroßen Schwarz-Weiß-Bildern. Es waren Miniatur-Storyboards, die Erfolg und Scheitern professioneller Fotosessions dokumentierten: Models in perfekter Haltung auf dem einen winzigen Bild, aber dann mitten im Lidschlag erfasst auf dem nächsten. Eine schmuddelige Grungeband, verraten durch die Hand der Maskenbildnerin, die sich ins Bild geschlichen hat. Manche Blätter waren mit Kaolinstift bekritzelt; Bilder waren eingekreist oder durchgestrichen. Ich strich mit dem Finger über die weißen Markierungen; sie waren erhaben und fühlten sich immer noch klebrig an. Ich nahm ein Blatt mit lauter nahezu identischen Bildern eines Mannes, der mit dem Rücken zur Kamera Klavier spielte, und drehte es um. Auf der Rückseite stand » James, 1978« und auf einem kleinen Aufkleber daneben » Roger Capel Portraits« und die Adresse eines Ateliers in Soho. Ich schnappte nach Luft, als mir klar wurde, dass ich das Werk ihres Vaters in der Hand hielt– vielleicht alles, was davon noch übrig war.
Als Nächstes kam ein loser Stapel von dünnerem Papier, eine scheinbar wahllose Sammlung von Seiten aus alten Illustrierten. Anzeigen mit glattgliedrigen Models, aber auch Interviews mit Schauspielern, Schriftstellern, Musikern, die nichts als Roger Capels Foto-Credits miteinander gemeinsam hatten. Meine Befriedigung über die Lösung eines Rätsels verschwand sofort hinter neuer Ratlosigkeit. Wenn ihr Vater schon lange tot war, wer hatte dann die erst vor sehr kurzer Zeit entstandenen Fotos von Biba gemacht?
Die Antwort fand ich am Boden der Schachtel: noch mehr lose Fotos, Schnappschüsse diesmal. Das erste, an den Rändern gekräuselte Bild war unscharf, aber die beiden Kinder in einem von Bäumen umgebenen Planschbecken waren unverwechselbar, ebenso wie die Frau im Bikini, die am Rand des Beckens hockte. Rex und Bibas Mutter hatten die gleichen Gesichtszüge und das gleiche Lachen. Ich blätterte zurück zu den obersten Fotos; als ich jetzt noch einmal genau hinschaute, zeigten sie gar nicht Biba, sondern die Frau, die ihr das Gesicht vererbt hatte. Die Ähnlichkeit war gespenstisch.
Von demselben Film waren noch ein paar Bilder da; auf den meisten tollten Rex und Biba im Planschbecken herum, und ihre Eltern waren nicht zu sehen. Aber endlich erschien auch der Fotograf vor der Kamera: Der Mann, den ich für Roger Capel hielt, saß mit hochgekrempelten Jeans auf dem Rand des Beckens und hängte die Füße ins Wasser. Dass er ihr Vater war, schloss ich nur aus seinem nachsichtigen Gesicht. Er war klein und stämmig und hatte volle Lippen und ein rundes, feminines Gesicht, weit entfernt von der bleichen Schönheit seiner Frau und seiner Kinder. Ich fragte mich, ob es ihm etwas ausgemacht hatte, Vater zweier Kinder zu sein, bei denen sein genetischer Input nicht zu erkennen war. Ein anderes, förmlicheres und sehr viel früheres Porträt zeigte den Säugling Biba schlafend auf den Armen der Mutter, posierend auf einem Schaffell in bewegungslosem Pampagras vor einem getüpfelten Hintergrund. Rex saß auf dem Schoß seines Vaters, und sein ernsthaftes kleines Gesicht betrachtete die Kamera beinahe misstrauisch. Wieder fragte ich mich, welche zweifache Tragödie diesen glücklichen Kindern beide Eltern geraubt haben mochte.
Den Streifen Zeitungspapier hätte ich übersehen, wenn ich mich nicht so sorgfältig bemüht hätte, alles wieder genauso zurückzulegen, wie ich es vorgefunden hatte, und mich daran zu erinnern, welche Fotos an welchem Platz gelegen hatten. Die schmale, vergilbte Zeitungsspalte war dreimal zusammengefaltet, und die Knickstellen waren rasiermesserscharf, nachdem sie
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