Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
jahrelang in Rex’ Karton zusammengepresst worden waren.
Das abgedruckte Foto war das der sonnigen Wiese. Es war nicht mehr festzustellen, aus welcher Zeitung der Ausschnitt stammte, ob aus einer überregionalen oder einer Lokalzeitung, und ein Datum stand auch nirgends. Die Sprache verwandte die eindeutige und schmucklose Terminologie eines Gerichtsreporters.
Der Tod des Models Sheila Capel ist auf Selbstmord zurückzuführen, wie die rechtsmedizinische Untersuchung heute ergab. Sheila Capel ist hauptsächlich für ihre Auftritte in der » Natura Shampoo«-Werbung Mitte der Siebzigerjahre bekannt.
Berichten zufolge litt Mrs. Capel an Depressionen, nachdem ihre Karriere ins Stocken geraten und ihre Ehe mit dem Fotografen Roger Capel gescheitert war. Sie hatte bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen.
Sie hinterlässt zwei Kinder, Rex (16) und Bathsheba (12). Dem Vernehmen nach befinden sie sich jetzt in der Obhut ihres Vaters. Angehörige der Familie Mrs. Capels standen bis Redaktionsschluss nicht für einen Kommentar zur Verfügung.
Rex schaut sich alle vergangenheitsbezogenen Fernsehsendungen so konzentriert an, als pauke er für ein Examen. Er macht keinen Unterschied zwischen anspruchslosen und schwergewichtigen Programmen, solange es um die Zeit geht, die er im Gefängnis verbracht hat: Mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt er Boulevardberichte über Promiskandale und ernsthafte politische Debatten. Heute ist es Letzteres: Eine Diskussion über Tony Blairs Vermächtnis läuft auf einem würdevollen Kanal irgendwo oben im zweistelligen Ziffernbereich. Vor der Studiodiskussion zeigen sie eine Montage aus Nachrichtenmaterial über Blairs Karriere. Es sind dieselben alten Aufnahmen, die sie immer heranziehen. Am Anfang kommen Bilder, die Rex zum ersten Mal mit mir zusammen in Highgate gesehen hätte: Der frischgesichtige Premierminister hält seine Lobreden auf die » Prinzessin des Volkes«, und bald folgen Aufnahmen, die er– wenn überhaupt– nur im Aufenthaltsraum des Gefängnisses gesehen haben kann. Das Baby auf der Schwelle von Downing Street Number 10. Der Millennium Dome. Die Flugzeuge, die in die Twin Towers krachen. Die Luftaufnahme des verlassenen Wagens, dessen Eigentümer tot hinter einem Baum verborgen ist. Menschenmassen, die in den Springbrunnen am Trafalgar Square springen, als die Bewerbung für die Olympischen Spiele gewonnen ist. Der Londoner Bus, dessen Oberdeck aufgeschält ist wie eine Orange. Die mit Flaggen bedeckten Särge, die auf das Rollfeld getragen werden. Das letzte Winken zum Abschied. Als Soundtrack zu diesen Bildern läuft der Song, den man für alle Zeit mit Blair verbinden wird: » Things Can Only Get Better.« Er wurde noch bis weit in den Sommer 1997 hinein im Radio gespielt. Es kann nur besser werden. Aber es wurde nicht besser für uns. Wir sollten nicht hier enden.
Die Diskussion wird beherrscht vom Thema Irak, aber eine Frau in einem blauen Tweedkostüm hat es entschieden darauf abgesehen, sie davon weg und zur Innenpolitik zu steuern– genau gesagt, zur Gefängnisreform. Sie will mehr Gefängnisse bauen, damit die Gerichte in die Lage versetzt werden, bei schweren Verbrechen auch angemessen lange Haftstrafen zu verhängen. Sie zitiert zwei Beispiele von Verurteilten, die nur die Hälfte oder sogar nur ein Drittel ihrer Haftstrafe abzusitzen hatten. Rex’ Name wird nicht erwähnt, aber in diesem Zusammenhang könnte man es tun. Meine Hand schwebt über der Fernbedienung, aber Alice hat sich sofort ausgeblendet, als sie das Wort » Politik« hörte, und ist in ihre Zeitschrift vertieft.
» Ich würde sagen, dann hat New Labour uns einen Gefallen getan«, stellt Rex fest. » Wenn es mehr Gefängnisse gäbe, säße ich jetzt vielleicht noch drin.«
Überfüllung und laxe Strafen sind sicher bis zu einem gewissen Grad verantwortlich für Rex’ vorzeitige Entlassung, aber andere Faktoren haben dabei ebenfalls eine Rolle gespielt.
Alice beschließt, dass der Augenblick gekommen ist, da sie ihrer Langeweile Ausdruck verleiht.
» Das da ist eine totale Spasti-Sendung«, sagt sie. » Spasti« ist ein verbotenes Wort.
» Fünfzig Pence«, sage ich automatisch. Das ist der Betrag, der von ihrem wöchentlichen Taschengeld abgezogen wird, wenn sie einen Ausdruck benutzt, der nicht meiner Vorstellung von Schicklichkeit oder vermutlich auch von Political Correctness entspricht. Rex sieht mich verwundert an, aber er stellt keine Fragen. Wahrscheinlich muss ich
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