Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
auch in anderen Jahreszeiten existierte, wehte wie ein kalter Wind über meinen Rücken.
» Ich dachte, wir haben schönes Wetter, sie wird sich warm anziehen und gehen. Ich war so glücklich, denn ich dachte, ich hätte das Richtige getan.«
» Und ist sie gegangen?«
Rex schloss die Augen. » Als ich aus der Schule nach Hause kam, sah ich ihre Füße oben an der Treppe, und ich wusste Bescheid. Sie hatte sich im ersten Stock am Geländer erhängt. Dabei hatte sie sich in die Hose gemacht. Ich roch die Pisse meiner eigenen Mum, und ihre Füße waren fleckig und geschwollen. Um ihr Gesicht zu sehen, hätte ich hinaufgehen müssen, aber das habe ich nicht getan.« Er schwieg, und ich erstarrte und hatte panische Angst davor, dass ihm die Tränen kommen könnten. Aber ich nahm an, dass er sich schon ausgeweint hatte. Er kniff mit Daumen und Zeigefinger die Haut zwischen seinen Augenbrauen zusammen, und als er die Hand sinken ließ, blieben weiße Fingerabdrücke zurück.
» Ich rief meinen Dad an, aber da war niemand zu Hause. Also ging ich nach nebenan zu Mrs. Howard– sie wohnte da, bevor die Wheelers eingezogen sind. Sie rief den Krankenwagen und gab mir eine Tasse Kakao und einen Keks, aber den konnte ich nicht essen und schob ihn deshalb zwischen die Sofapolster. Sie ließ mich nicht mehr allein zurückgehen. Das war das Schlimmste– dass ich nicht wieder zurückgegangen bin. Ich denke immer, so schlimm, wie es da schon war, ich hätte zurückgehen sollen. Ich kann überhaupt nicht darüber nachdenken, um wie viel schlimmer es noch geworden ist, weil ich nicht zurückgegangen bin.«
» Das verstehe ich nicht. Soll das heißen, eure Mum hat da noch gelebt?«
» Nein, sie war tot. Schon seit Stunden. Daran hätte ich nichts mehr ändern können. Aber als ich nebenan bei Mrs. Howard war, kam Biba nach Hause. Sie hatte ihre Theater- AG , und sie sollte nicht vor sieben nach Hause kommen, aber die Lehrerin war krank geworden. Die Haustür war nicht richtig zu, und sie ist ins Haus gekommen. Sie war erst zwölf, Karen. Als der Krankenwagen kam, stand sie oben auf der Treppe und versuchte, Mum hochzuhalten. Zwei Mann waren nötig, um Biba von ihr… von der Leiche wegzubekommen.« Er drehte sich auf die Seite und sah mich an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Trotz und Angst. » Und das war’s. Das war die Geschichte. Es war meine Schuld, dass Mum sich überhaupt umgebracht hat, und es war meine Schuld, dass Biba es gesehen hat.«
» Oh, Rex«, sagte ich. » O nein. Du hast unrecht, wenn du dir die Schuld an beidem gibst. Du bist nicht verantwortlich für das, was deine Eltern getan haben. Du warst erst sechzehn! Du konntest es nicht wissen.«
» Ich hätte es wissen müssen. Ich habe jeden Tag damit gelebt«, sagte er. » Das ist also die Antwort auf deine Frage. Es ist, als hätte sie keinen Dad, und die Mutter, die sie hatte, habe ich praktisch umgebracht. Ich habe mich gegen meine Mum gestellt, und du siehst, was passiert ist! Wenn ich das Gleiche noch einmal tue und Biba verliere, dann war’s das, dann ist es aus.«
» Sie hat es schon mal getan, nicht wahr?«, sagte ich. » Biba. Sie hat versucht, sich umzubringen.«
Er nickte.
» Mit ungefähr sechzehn hat sie sich mal in den Kopf gesetzt, sie müsse auf eine Schauspielschule in New York. Dad hat Nein gesagt, und ich habe ihm zugestimmt, aber aus anderen Gründen. Er wollte nicht bezahlen, ich wollte sie nicht verlieren. Aber als ich mich auf Dads Seite und gegen sie stellte, hat sie nur das gesehen.«
» Und was hat sie getan?«
» Sie hat eine Packung Paracetamol mit einer Flasche Jack Daniel’s heruntergespült«, sagte er. » Ich glaube nicht, dass es wirklich mehr als ein Hilferuf sein sollte; sie hat selbst den Krankenwagen gerufen, kaum dass sie alles geschluckt hatte. Aber darum mache ich so viel Aufhebens um sie. Ich will nicht riskieren, sie noch einmal so zu verletzen. Ich weiß, wie es ist, jemanden auf diese Weise zu verlieren, und ich liebe sie zu sehr, um das geschehen zu lassen. Sie ist alles, was ich noch habe; das war sie zumindest, bis du gekommen bist.«
Er rollte sich zusammen, schlang die Arme um meine Taille und legte den Kopf auf meine Brust, mehr Kind als Liebhaber. Mir war plötzlich erstickend heiß– aus Gründen, die nichts mit dem geschlossenen Fenster zu tun hatten. Der erste richtige Sonnenstrahl trieb eine neue Hitze durch den Efeu, der vor dem Fenster wuchs. Die Blätter pressten sich an die Scheibe, giftig
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