Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
mit Alice anschauen musste, anscheinend gefallen, genau wie mir bei den ersten drei, vier Malen. Vielleicht hat er Lust, sich den nächsten Film allein mit ihr anzusehen.
Als ich höre, wie er sich draußen die Stiefel abstreift, bin ich bei meinem zweiten Glas. Ich schalte den Computer ab, richtig diesmal, und gieße ein großes Glas für ihn ein. In London hat er nie Weißwein getrunken, aber jetzt hat er eine Vorliebe dafür, genau wie ich.
Es war der kühle Teil der Nacht, wenn die Stadt auszuatmen scheint, aber in Rex’ Zimmer war es immer noch drückend heiß. Sogar die fingernagelgroße Flamme der einsamen Kerze, die er angezündet hatte, schien die Hitze eines Hochofens auszustrahlen. Ich strampelte die Decke herunter und streckte Arme und Beine aus wie ein Seestern, um Kühlung zu finden, aber die Luft war genauso warm und klebrig wie meine Haut. Ich schaute auf seine Armbanduhr auf dem Nachttisch; es war nicht das erste Mal, dass ich aufwachte und sah, dass er nicht da war, aber diesmal verging eine halbe Stunde, bis er zurückkam. Das erste Sonnenlicht sickerte durch das Fenster und ließ die winzige Flamme verblassen. Er brachte einen Glaskrug mit wolkigem Wasser und zwei schmutzige, mit Fingerabdrücken bedeckte Gläser mit. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man vergessen, dass man in London war, aber man wusste es gleich wieder, wenn man das kalkstaubige, aufbereitete Wasser sah. Wir warteten, bis die Trübstoffe sich gesetzt hatten, bevor wir tranken.
» Wohin gehst du, wenn du nachts verschwindest?«, fragte ich.
» Ich sehe Biba beim Schlafen zu«, sagte er.
» Warum?«
» Ich weiß nicht. Um nachzusehen, ob sie noch lebt? Ob sie noch da ist?«
Sein dauerndes Nachsehen in der Nacht war nicht das verstohlene Gaffen des Voyeurs, sondern der Blick des besorgten Vaters auf das Kind in seinem Bettchen. Trotzdem ging es mir auf die Nerven.
» Warum machst du dir solche Sorgen um sie, Rex? Du bist nicht für sie verantwortlich.«
» O doch. Was ich auch tue, für sie kann es nie genug sein.«
Rex fuhr mit einer feuchten Hand über meine Brüste und meinen Bauch und ließ sie dann über meinem Nabel liegen. Ein frisches Kribbeln regte sich in mir.
» Es ist meine Schuld«, sagte er, und das Wasser wölkte von Neuem im Glas, als er nachgoss. » Sie ist so, weil das mit unserer Mutter passiert ist, und daran bin ich schuld.«
» Wie meinst du das? Eure Mutter hat sich umgebracht.«
» Aber ich habe es verursacht.«
» Das hat niemand verursacht.« Ich hoffte, dass es beruhigend klang. » Niemand war schuld.«
» Ja, aber wenn du weißt, dass es einem Menschen nicht gut geht, und wenn du weißt, dass er etwas Verrücktes tun wird, wenn du weißt, wie man ihn daran hindern kann, und ihn nicht hinderst, ja, schlimmer noch, wenn du ihn sogar provozierst, dann bist du genauso schuldig, denn du wusstest, was du tust. Verstehst du, was ich meine?« Seine Stimme wurde lauter und schrill wie die seiner Schwester.
» Nein, das verstehe ich nicht«, sagte ich. Er sah sich im Zimmer um, als hoffe er, jemand möge hereinkommen und ihm das Reden abnehmen.
» Okay. Scheiße. Soll ich es dir erzählen?« Er richtete diese Frage nicht an mich, sondern an die Tür, hinter der Biba schlief. » Ich glaube, du solltest es wissen, ich glaube, du kommst damit zurecht, und ich glaube nicht, dass es zwischen uns etwas zerstören wird.« Ich nahm seine Hände und bog die Finger auf, die sich zu Fäusten gekrümmt hatten; einen nach dem anderen strich ich glatt und massierte die Haut zwischen ihnen, während er sprach. Er holte tief Luft.
» Ich war sechzehn, als sie starb«, sagte er. » Mum war da schon zu krank, um noch aus dem Haus zu gehen, und ich meine nicht körperlich gebrechlich– sie war zu depressiv, zu verrückt, wie immer du es nennen willst. Biba war zwölf, und sie durfte nicht in den Wald oder auf die Heide, nicht allein und nicht, wenn es dunkel war. Aber Mum hatte nichts dagegen, mich hin und her zu jagen, zwischen hier und Hampstead, wo Dad seine neue Wohnung hatte. Seine Fickbude, sagte sie. Ungefähr vier Jahre vergingen, nachdem er Mum verlassen hatte und bevor er Jules kennenlernte, und ich glaube, in diesen vier Jahren hat er eine Menge Frauen untergebracht. Es gibt keinen Bus zwischen Hampstead und diesem Teil von Highgate, und wenn man mit der U-Bahn fahren wollte, musste man bis hinunter nach Camden Town. Da war man schneller, wenn man gleich zu Fuß ging. Drei-oder viermal in der
Weitere Kostenlose Bücher