Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Ich hatte einen vollen Benzintank und keine dringenden Verpflichtungen; wenn ich mich jetzt ins Auto setzte, könnte ich zu einem hausgemachten Abendessen da sein. Ich wollte hören, wie meine Mutter über die neue Wohnsiedlung meckerte, die auf der Wiese hinter unserem Haus gebaut wurde, und wie sie über Leute tratschte, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte. Ich wollte hören, wie mein Dad mit seinem peinlichen Akzent den Fernseher anbrüllte. Ich wollte irgendwo sein, wo ich mich nicht bemühen musste, die Leute, mit denen ich zusammenlebte, zu verstehen. Ich begriff: Ich wollte einen Tag ohne Überraschungen und dunkle Leidenschaften und tote Mütter und grausame Väter. Das wollte ich so sehr und so plötzlich, dass mir ein Kloß in die Kehle stieg.
» Kann ich nach Hause kommen, Mum?«, fragte ich. » Nur kurz?«
Sie klickte ungeduldig mit den Zähnen. » Wir fliegen nach Madeira, oder?«, sagte sie, als hätte ich das wissen müssen, und tatsächlich hätte ich es wissen müssen. Meine Eltern verbrachten die beiden ersten Augustwochen jedes Jahr in demselben Hotel, seit ich zehn war. An diesem Ferienort war mein Sprachentalent zum ersten Mal an die Oberfläche gedrungen, als ich nach wenigen Tagen im Lande unversehens einem Tisch voll staunender Erwachsener eine komplette portugiesische Speisekarte übersetzt hatte.
» Wann kommt ihr zurück?«, fragte ich. An dem Tag, den sie mir nannte, würden meine Examensergebnisse veröffentlicht werden. Sie würden in Heathrow landen, und ihr Wagen würde dort wie immer auf dem Dauerparkplatz stehen.
» Dann kommt auf dem Heimweg vom Flughafen bei mir vorbei«, sagte ich. » Ihr fahrt buchstäblich an der Haustür vorbei. Dann könnt ihr den Brief mit den Examensnoten für mich aufmachen. Und du kannst für mich kochen.«
Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um die Post durchzusehen. Ich sortierte die Briefe für die drei anderen zu drei säuberlichen Stapeln, bevor ich mir meine eigenen vornahm. Abgesehen von ein paar Umschlägen mit Kontoauszügen, die ich gar nicht erst öffnete– in den letzten paar Wochen hatte ich mein Giro- und mein Sparkonto praktisch nicht angerührt–, bestand meine Post hauptsächlich aus Prospekten und Briefen von diversen Unidepartments für Moderne Sprachen, Briefe aus ganz Großbritannien, aber auch einer von einer Universität in Philadelphia, einer aus Missouri und einer aus Uppsala in Schweden. Noch vor zwei Monaten hätte ich geschmeichelt und aufgeregt auf diese Auslandsprospekte reagiert. Als ich sie jetzt sah, war mein erster Gedanke, ob sie mir wohl noch ein Jahr Frist gewähren würden. Ich war noch nicht bereit dazu, London zu verlassen. Würde ich es jetzt überhaupt jemals sein? Ich rief meine Tutorin Caroline Alba an und vereinbarte mit ihr einen Termin für den folgenden Tag.
Die letzte Sendung hätte ich beinahe mit der Reklame weggeworfen. Die Postkarte zeigte ein Blumenbeet am Flughafen von Perpignan und war genauso grellbunt wie ein Pizzamenü. Dafür hätte ich sie auch gehalten, wenn der feste Karton mich nicht veranlasst hätte, noch einmal hinzuschauen. Es war Emmas Handschrift.
» Haben viel Spaß bei der Arbeit im Weinberg und trinken lecker Rotwein in Mengen. Bist Du am Resultatstag zu Hause? Wir rufen Dich um neun an. GB -Zeit. Bis bald, sei lieb gedrückt von E, S und C.« Ich stellte die Karte auf das Kaminsims zu den gerahmten Fotos, die vor einem Menschenleben gemacht worden waren. Der Parkzettel, um den Rex sich hatte kümmern wollen, lag jetzt in Form eines Briefs von der Bezirksverwaltung Haringey wieder auf der Matte: Wenn ich nicht innerhalb der nächsten drei Tage bezahlte, würde sich das Verwarnungsgeld verdoppeln. Ich warf einen Blick auf das Datum. Waren seit dem Abend wirklich erst zwei Wochen vergangen?
Die Frau am Empfang im Tennisklub war erfreut, mich zu sehen.
» Ich habe Sie und Ihre Freunde schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen«, sagte sie. » Wir haben uns gefragt, wo Sie wohl alle sind. Ich habe vermutet, wahrscheinlich irgendwo als Au-pair oder so etwas.« Einen Moment lang fragte ich mich verwirrt, wieso sie erwartete, dass die Capels einen Sportklub am anderen Ende von London besuchten. Dann begriff ich: Sie war es gewohnt, mich mit den Mädels oder mit Simon zu sehen.
» Ich nicht«, sagte ich. » Ich bleibe ausnahmsweise in London.« Sie reichte mir einen sauberen weißen Bademantel und ein dazu passendes, flauschiges Handtuch. Wie der Klub selbst rochen sie
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