Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
grün, in Größe und Form gleich menschlichen Herzen.
ACHTZEHN
D as Haus in Brentford sah vertraut und fremd aus, wie das manchmal ist, wenn man aus den Ferien nach Hause kommt. Die einzigen äußerlichen Zeichen der Vernachlässigung waren vereinzelte Unkräuter oder Grashalme, die zwischen den Schachbrettplatten des Gartenwegs heraufsprossen. Die Veranda wurde durch einen großen Lorbeerbusch vor der Straße abgeschirmt, und ich hatte das Gartentor absichtlich nicht abgeschlossen, damit der Briefkasten nicht von einem verräterischen Stau von Gratiszeitungen verstopft wurde. Ein oder zwei solche Blätter waren da, dazu die übliche Ansammlung von braunen und weißen Umschlägen. Die Speisekarten diverser Bringdienste sorgten für Farbe. Oben auf diesem Blätterteig aus Junkmail lag ein Riesenstrauß Stargazer-Lilien. Das Wasser in der Zellophanumhüllung war längst verdunstet. Die Blüten kräuselten sich und wurden braun, aber sie waren pink und weiß gewesen, als sie frisch waren. Ihr abgestandener, stickig süßer Geruch erfüllte die Veranda. Das Herz rutschte mir in die Hose, als ich die Handschrift auf der Rückseite der Geburtstagskarte sah, die zwischen zwei Blüten steckte.
» Liebe Karen, wir wollten Dich an Deinem Geburtstag zu einem Überraschungsessen einladen, aber anscheinend bist Du schon unterwegs und feierst woanders! Konnten Dich in letzter Zeit nicht erreichen, also melde Dich mal. Wir machen uns sonst Sorgen. Alles Liebe, Mum und Dad.«
Ich hatte von Highgate aus regelmäßig zu Hause angerufen, aber als ich jetzt durch meinen geistigen Kalender blätterte, wurde mir klar, dass ich mich seit dem Tag vor meinem Geburtstag nicht mehr bei ihnen gemeldet hatte. Bei diesem Gespräch mussten sie die Fahrt nach London geplant haben. Vielleicht hatten sie sogar für uns drei einen Tisch in einem Restaurant reserviert. Ich war so sehr von der neuen Familie, die ich mir ausgesucht hatte, in Anspruch genommen, dass ich an die, aus der ich kam, überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Ich sah sie vor mir in ihrem Auto– wie Dad in seiner Lieblingslederjacke der Hitze trotzte, und wie Mum auf der Ausfahrt der M25 ihren Lippenstift nachzog, als ob ganz London sie im Auge behielte. Ich sah auch ihre abendlichen Telefontreffs vor mir und wie sie Abend für Abend immer enttäuschter und beunruhigter waren, weil ich mich nicht meldete. Es heißt ja, man weiß nicht, was Bangigkeit ist, solange man keine Kinder hat, aber ich hatte mir in den letzten paar Wochen genug Sorgen gemacht, zugehört und Mitgefühl gezeigt, um eine ganz neue Empfindsamkeit für die Nöte zu entwickeln, die ich ausgelöst haben musste. Ich nahm die zerfallenden Lilien in die Arme. Vertrockneter Blütenstaub rieselte wie gelbe Asche auf meine Kleidung, als ich in die Hocke ging, um die restliche Post aufzuheben.
Das Haus sah aus, als sei es für eine Inspektion geputzt worden. Jedes Kissen war perfekt aufgeschüttelt und rautenförmig auf dem Sofa arrangiert, und der leere Kühlschrank summte wie ein Bienchen in der makellosen Küche. Als Erstes griff ich zum Telefon– so sauber, so praktisch, dachte ich, als ich die Antenne herauszog und im Haus umherspazierte– und rief meine Eltern an. Es war ein Uhr; Dad würde zum Mittagessen zu Hause sein. Meine Eltern gehörten nicht zu der Sorte, die mir wegen so etwas das Fell über die Ohren ziehen würden; das taten sie eigentlich überhaupt nie, aber trotzdem kam ich einer Standpauke zuvor, indem ich mich entschuldigte und sie dann mit der Neuigkeit entwaffnete, ich hätte einen neuen Freund.
» Da bist du also gewesen? Als wir dich besuchen wollten?«, fragte Mum, und Dad meinte, hoffentlich hätte ich diesmal einen richtigen Freund gefunden, nicht so einen » idiotischen Rugbydödel« wie Simon. Jeder Vergleich zwischen Rex und Simon brachte mich zum Lächeln.
» Er hat so wenig Ähnlichkeit mit einem Rugbyboy, wie du es dir nur vorstellen kannst, Dad.«
» Das hört man gern«, sagte er, und ich vernahm, wie er ausatmete und sich in seinen Sessel sinken ließ.
Das Haus meiner Eltern erschien vor meinem geistigen Auge: die Gardinen, die Couchgarnitur, der Fernseher, der immer lief, und mein altes Zimmer, pastellblau und cremefarben, mit sauberen Bettbezügen, die nach Weichspüler rochen. All diese Dinge, die ich zu verachten gelernt hatte, wirkten plötzlich verzweifelt tröstlich, und ich sehnte mich danach, wenigstens einen einzigen Abend im Heim meiner Kindheit zu verbringen.
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