Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Woche musste ich hin. Ich schätze, ich kenne die Heide mindestens so gut wie den Wald hier. Na ja, wie du weißt, sind es etliche Meilen, und es geht bergauf und bergab. Es war eine richtige Wanderung, hart und anstrengend. Darum bin ich wahrscheinlich so dünn.« Er hielt einen dürren, weißen Arm hoch, der aussah wie ein verknotetes Bettlaken. Ich küsste ihn in die Armbeuge.
» Sie schrieb ihm immer«, fuhr er fort. » Stundenlang saß sie an diesem Sekretär in Ninas altem Zimmer und schrieb Briefe. Sie parfümierte sie, und manchmal versiegelte sie sie mit Wachs. Mit Siegellack, verdammte Scheiße… Ich glaube, das fand sie romantisch, wie etwas aus einem viktorianischen Roman. Es brach mir das Herz, wenn ich sah, wie viel Hoffnung sie in diese Briefe legte, aber ich fand es auch ein bisschen widerwärtig, wenn ich ehrlich sein soll. Ist es schlimm, so etwas über die eigene Mutter zu sagen? Aber es war so, vor allem wenn ich wusste, dass ich sie zu meinem Vater bringen musste und dass er die meiste Zeit nicht mal zu Hause sein würde. Dann kam ich zurück, und sie hatte auf mich gewartet und wollte wissen, was er gesagt, was er geantwortet hatte. Ich hab dann alles Mögliche erfunden, um sie zu trösten. Ich erzählte, er hätte sich bedankt und er würde bald mal vorbeikommen. Wahrscheinlich hat das mehr geschadet als geholfen.«
» Du hast aus den richtigen Gründen das Falsche getan«, warf ich ein.
» Ich bin froh, dass du es so siehst. Ich wünschte, ich könnte es auch. Jedenfalls, eines Tages hatte ich einfach genug. Es war kalt, ich hatte den ganzen Tag Rugby gespielt, was ich hasste, und ich wollte nur noch nach Hause und mich im Warmen zusammenrollen. Sie war so übel drauf wie nur selten; sie war stinkbesoffen und hatte nichts gekocht, und sie hatte einen Brief, den ich zu Dad bringen sollte. Ich wusste, darin stand wieder nur das Gleiche wie immer: wie sie seine Kinder geboren und ihre Jugend aufgegeben habe, warum er sie zurücknehmen solle und wie gut es wäre, wenn er zu seiner Familie zurückkäme. Das ganze Zeug. Aber ich las den Brief trotzdem, und ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Es ging nur um Sex. Sie bot ihm lauter Sachen an, die sie für ihn machen würde, wenn er nur wieder nach Hause käme… Sie sagte, sie würde ihm… Ich kann es nicht mal aussprechen. Aber du kannst es dir vorstellen. Dass deine Mum so was tut, daran willst du einfach nicht denken.«
» Armes Baby.« Ich zwirbelte sein Haar zu kleinen Stacheln.
» Kannst du dir vorstellen, dass du tatsächlich seit Nina die erste Person bist, der ich davon erzählt habe?«, sagte er. » Und danach ging dann alles schief zwischen uns. Deshalb verstehst du vielleicht, warum ich es vielleicht noch ein bisschen hinauszögern möchte.«
» Es wird nichts verändern.« Ich küsste ihn, um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meinte. Als er weitersprach, sah er mir in die Augen.
» Sie sagte, ich sei jetzt der Mann im Hause, ich müsse für sie sorgen, und das könne ich am besten, indem ich diesen Brief nach Hampstead brächte. Ich dachte, wenn sie will, dass ich mich benehme wie ein Mann, dann werde ich das jetzt tun, verdammt: Ich werde ihr nicht mehr gehorchen. Ich sagte, ich würde ihren Brief nirgendwo hinbringen. Ich glaube, ich sagte sogar, sie soll ihn sich in den Arsch schieben. Sie drehte durch und rannte kreischend im Haus herum: Ihr Mann habe sie verlassen, und jetzt habe ihr einziger Sohn das Gleiche vor. Ich wollte sie nicht verlassen, sagte ich, aber mir sei kalt, ich hätte Hunger, und ich würde jetzt nicht losziehen und ihren Brief wegbringen. Er habe sowieso keinen einzigen gelesen, und ich hätte sie angelogen. Ich sehe ihr Gesicht heute noch vor mir. Nichts hätte ich sagen können, was sie schlimmer verletzt hätte. Sie glaube mir nicht, antwortete sie, aber wir wussten beide, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich redete mir ein, meine Grausamkeit sei nur gut gemeint: Ich müsse sie zwingen, sich anzuziehen und selbst nach Hampstead zu gehen. Dann würde sie schon sehen, dass er sie nicht mehr wollte. Er würde ihr sagen, sie solle sich verpissen, und dann müsse sie eben darüber wegkommen. Ich fand, ich war zu nachsichtig mit ihr gewesen. Damit hatte ich sie zur Trägheit verleitet. Am nächsten Morgen vor der Schule schien mit ihr alles okay zu sein. Es war ein schöner Tag, eiskalt, aber klar und sonnig.«
Ich versuchte, mir vorzustellen, dass es in diesem Haus kalt war. Die Vorstellung, dass es
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