Das giftige Herz
plötzlich die schöne Hedwig in der Tür auf.
»Vielleicht kommst du ja ganz bald schon wieder, Jacques«, sagte sie mit einem verführerischen Lächeln, »und bringst mir doch noch ein Herzl mit.«
»Die Herzln sind giftig«, sagte Pistoux und ging los.
Diesmal verließ er das Patrizierhaus durch den Dienstboteneingang und musste einen Umweg machen, um den Rückweg wiederzufinden.
Zurück ging es leichter. Die Wege waren jetzt fast alle vom Schnee geräumt und der Wagen ohne Ladung ganz leicht zu ziehen.
Die Bäckerei war geschlossen. Pistoux klopfte an die Ladentür und wurde von Frau Dunkel eingelassen. Sie hielt ein Taschentuch in der Hand und weinte.
Eine Weile standen sie hilflos voreinander. Dann sagte Pistoux, der bemerkt hatte, dass von draußen Passanten und Nachbarn neugierig hineinspähten: »Gehen wir in die Backstube.«
Dort setzten sie sich an den großen Tisch, und Pistoux wartete, bis Frau Dunkel sich wieder gefasst hatte.
»Sie habe ihn mitgenommen.«
»Ich weiß.«
»Alles ist aus. Wir sind ruiniert. Eine Schande.«
»Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen«, sagte Pistoux.
»Ach, es ist zum Verzweifeln!« Die Bäckersfrau schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich dachte, wir hätten gar keine Lebkuchen mehr übrig gehabt«, sagte Pistoux vorsichtig.
»Natürlich nicht. Sie waren alle verkauft und längst ausgeliefert.«
»Aber der Inspektor behauptet, es sei ein Karton gefunden worden …«
»Vergiftet!«, rief Frau Dunkel laut aus und begann wieder zu schluchzen.
»Wie kann denn so etwas geschehen?«
»Es ist eine schreckliche Heimsuchung, Herr Pistoux, schrecklich!«
»Die Schachtel mit den Lebkuchen, von der der Inspektor gesprochen hat …«
»Er hat sie mitgenommen!«, fiel ihm die Bäckersfrau ins Wort.
»Ja, ja«, sagte Pistoux geduldig. »Aber wo kam sie her?«
»Woher soll ich das denn wissen?«
»Wo wurde sie denn gefunden?«
»Da hinten in der Kammer, die zum Hof führt, auf einem Regal, dort, wo so etwas überhaupt nicht hingehört.«
»Könnte Ihr Mann die Schachtel dort hingelegt haben?«
Frau Dunkel hörte auf zu schluchzen und sah Pistoux böse an: »Wie können Sie so etwas nur denken?«
»Ich sage ja nicht, dass er die Lebkuchen mit Gift getränkt hat. Aber irgendwie müssen diese Herzen ja ins Haus gekommen sein.«
Die Bäckersfrau beugte sich verschwörerisch nach vorn: »Es gibt eben Einbrecher, die holen etwas, und solche, die bringen etwas.«
In diesem Moment begann es im Hof zu poltern, und man hörte einen lauten Schmerzensschrei.
10 NIEMANDS GESTÄNDNIS
Pistoux und die Bäckersfrau sprangen auf, erstarrten für einen Moment, blickten sich erschrocken an, dann rumpelte es wieder, und sie eilten in die Kammer, deren Außentür in den Hof führte. Pistoux entriegelte die Tür, stieß sie auf und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen, weil ihm ein Fass vor die Füße rollte. Frau Dunkel folgte ihm. Sie blieben auf dem abgezäunten Teil des Innenhofs stehen, der zur Bäckerei gehörte, und blickten sich um. Pistoux glaubte in einer Lücke des Zauns zum Nachbarhof ein Gesicht zu sehen.
»Um Himmels willen!«, rief die Bäckersfrau. »Was ist denn hier passiert?«
Sämtliche Kisten, Kästen und Fässer, die hier gestapelt worden waren, hatten sich wie von Geisterhand bewegt selbständig gemacht und waren umgekippt. Pistoux hatte an einem Nachmittag alles ordentlich übereinander gestapelt, mannshoch, damit endlich wieder Platz war hinter der Bäckerei, und nun sah er, dass seine Arbeit umsonst gewesen war. Es herrschte ein einziges Durcheinander; manche Kisten und Fässer waren sogar zerborsten.
Frau Dunkel sah ihn vorwurfsvoll an. Hatte er so schlecht gestapelt, dass alles von allein umgekippt war? Plötzlich hörten sie ein Ächzen. Das Ächzen wurde zum Stöhnen, verwandelte sich in ein Jammern. Das Jammern wurde zu Schluchzen, und dann begann jemand zu weinen.
»Was ist …?« Frau Dunkel drehte sich ratlos um die eigene Achse.
Pistoux sah, wie sich einige Kisten bewegten. Darunter lag jemand. Jetzt entdeckte er einen ramponierten alten Schnürschuh, in dem ein dünnes Beinchen steckte. Keine Strümpfe.
»Da liegt jemand drunter.«
Frau Dunkel schrak zusammen. »Einbrecher …«, flüsterte sie.
Jetzt begann eine weinerliche Stimme zu lamentieren: »Bitte holt mich hier raus!«
»Rausholen?«, fauchte Frau Dunkel. »Draufsetzen möchte ich mich am liebsten …«
»Aber Frau Dunkel«, sagte Pistoux tadelnd. Er hatte sich bereits
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