Das giftige Herz
völlig übertrieben als Salon bezeichnet wurde. Es war ein Esszimmer, in dem auch zwei Sofas und drei Sessel standen. Hier traf man sich zum Plaudern, Sticken, Nähen, Lesen.
Hedwig blickte den Inspektor spöttisch an, als sie von Frau Kusch hereingebracht wurde. Hatte sie den Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht bemerkt, als sie ihm im züchtigen hochgeschlossenen Kleid gegenübertrat? Hatte er etwa erwartet, dass sie ihm halb nackt im Morgenrock vorgeführt würde? Wanner hatte die anderen jungen Frauen gebeten, während er Befragung nach draußen zu gehen. Frau Kusch war allerdings der Ansicht, dass diese Aufforderung nicht für sie galt. Sie setzte sich auf das Sofa, das auf der anderen Seite des mächtigen Esstischs stand, und griff nach einer Stickerei. Wanner und Hedwig saßen gemeinsam auf dem anderen Sofa, mit genügend Abstand zwischen sich. Auf dem Esstisch standen ein Adventskranz mit vier angebrannten Kerzen und eine große Schale mit Äpfeln und Nüssen. An den Wänden hingen Teppiche mit Berglandschaften und röhrenden Hirschen, was Wanner als unpassend empfand.
Er räusperte sich. Frau Kusch stickte fleißig vor sich hin. Wanner räusperte sich ein zweites Mal. Die Witwe blickte kurz irritiert auf und senkte wieder den Kopf.
»Bitte, Frau Kusch …«
»Ja, Herr Inspektor?«
»Es tut mir sehr Leid, aber …«
»Ja?«
»… Sie dürfen dem Verhör nicht beiwohnen.«
»Wie bitte?«
»Ich muss Sie leider bitten, den Raum zu verlassen, während ich Frau Söller Fragen stelle. Es handelt sich um vertrauliche Angaben.«
Frau Kusch blickte den Inspektor ungnädig an: »Sie haben Vertrauliches mit Hedwig zu besprechen? In meinem Haus?«
»Wo sonst sollte ich sie aufsuchen, Frau Kusch? Wenn ich also bitten darf. Ich bin in amtlicher Funktion hier.«
Mit blitzenden Augen stand Frau Kusch auf: »Dies ist mein Haus!«
»Selbstverständlich, aber ich führe eine polizeiliche Ermittlung durch.«
»Polizei«, sagte die Witwe abfällig.
»Frau Kusch …«
»Ich gehe, aber ich werde draußen im Flur warten.«
»Ich danke Ihnen.«
»Nichts zu danken.« Und damit rauschte sie nach draußen und warf die Tür hinter sich zu.
Wanner drehte sich zu Hedwig um und bemerkte einen Anflug von Röte auf ihrem Gesicht.
»So ist noch nie jemand mit der Alten umgesprungen«, sagte sie.
»Es ging nicht anders.«
Hedwigs erstaunter Gesichtsausdruck verwandelte sich zu einem verführerischen Lächeln.
»Sie wollen also mit mir allein sein, Inspektor?«
»Ich muss dir einige Fragen stellen.«
»Fragen Sie mich ruhig aus, Inspektor«, sagte Hedwig, und für einen kurzen Moment hatte Wanner den Eindruck, sie hätte gesagte: Ziehen Sie mich ruhig aus. Ihm wurde heiß.
»Darum geht es nicht«, stotterte er.
»Nein, Herr Inspektor, um was denn?«
»Um das, was du gesehen hast …«
»Was ich gesehen habe? Wenn ich abends aus dem Fenster schaue?«
Sie hatte es irgendwie geschafft, näher zu rücken. Wanner dachte an die alte Matrone draußen vor der Tür. Ihm wurde bewusst, wie frech dieses Dienstmädchen war, und vielleicht war sie nicht nur frech … Er spürte Wut in sich aufsteigen.
Hedwig wippte mit dem Fuß, ihr Kleid rutschte ein Stück nach oben, ein Stück Strumpf war zu sehen.
»Was du im Hause Ehrenhoff gesehen und gehört hast.«
»Alles?« Das Kleid glitt noch ein wenig höher und enthüllte eine schlanke Wade. Wanners Wut verwandelte sich in Zorn. Dieses Mädchen glaubte wohl, sie könne mit ihm spielen. Sie bildete sich ein, keinen Respekt haben zu müssen. Sie hätte es wohl gern gehabt, wenn er vor ihr auf die Knie fallen würde, nur weil sie frecher war als die anderen! Aber nicht mit ihm, nicht mit Gregor Wanner!
Er sprang vom Sofa auf und rief lauter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte: »Es geht um Mord!«
Hedwig zuckte zusammen und wurde bleich.
Wanner merkte, dass es ihm Spaß machte, das Mädchen anzuschreien, also tat er es nochmal: »Dies ist eine amtliche Ermittlung! Ich bitte um mehr Respekt!«
»Jawohl«, hauchte Hedwig und ließ das Kleid wieder über die Wade fallen.
»Ich verhöre dich als Zeugin und verlange den nötigen Ernst!«
»Ja, Herr Inspektor.«
Es gefiel ihm, wie sie so zu ihm hochblickte. Er zog sich einen Stuhl vom Esstisch heran und setzte sich darauf. So konnte er auch weiterhin auf sie hinunterblicken.
»Also«, sagte er jetzt sachlich, »wie konnte es geschehen, dass der Ratsherr mit einem Lebkuchenherz vergiftet wurde?«
»Ich weiß nur,
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