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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Eltern.«
    »Nein, bitte brich nicht deine Arbeit ab«, fiel sie ihm ins Wort. »Es hört sicher gleich wieder auf zu regnen. Und ich kann allein fahren.«
    »Warum bist du bloß hergekommen?«
    »Weil ich …«
    »Nur, um deinen Dickkopf durchzusetzen, ja?«
    Das wollte sie empört von sich weisen, aber vielleicht war es gar nicht so falsch. Wie auch immer, sie musste ihm nur das Licht zeigen, dann würde er verstehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und blickte ins Wasser. Ja, es war noch da. »Sieh doch nur, Friedrich, sieh dir das an!«
    »Was? Was denn?«
    »Da unten im Wasser. Das Licht! Es kann doch nicht sein, dass du es nicht siehst.«
    Aber er sah gar nicht hin. Stattdessen griff er ungeachtet seiner schmutzigen Finger nach ihrem Arm. »Grazia, nicht schon wieder so eine merkwürdige Geschichte! Was ist nur mit dir? Mir scheint, du bist wirklich krank.«
    »Ich bin nicht krank!«, schrie sie ihn an. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. »Verzeih, ich wollte nicht laut werden.«
    »Du bist nicht nur laut, du bist überspannt.«

    »Überspannt? Bitte!«
    »Komm jetzt.« Er wollte sie mit sich ziehen, doch sie riss sich von ihm los und machte einen Schritt zurück. Ihre Stiefelsohle rutschte über die Kante. Mit einem lauten Schrei fiel sie in die Havel.
    »Grazia! Mein Gott! Grazia! «
    Sie wollte ihm antworten, doch das Wasser schlug über ihr zusammen und erstickte jeden Laut. Verzweifelt suchte sie mit den Füßen Halt. Sie paddelte hilflos mit den Armen und reckte den Kopf nach oben. Es gelang ihr, Luft zu schnappen, doch als sie den über ihr knienden Friedrich um Hilfe anschrie, schwappte das Wasser in ihren Mund. Er streckte eine Hand nach ihr aus. Wild schlug sie danach, bekam sie jedoch nicht zu fassen.
    »Bleib doch ruhig«, rief er ihr zu und machte Anstalten, ins Wasser zu springen. Da bekam sie die Kante des Stegs zu fassen. Er packte ihr Handgelenk, dann das zweite. »Ganz ruhig«, ermahnte er sie. »Ich habe dich ja.«
    »Friedrich«, keuchte sie. »Etwas ist … da unten.«
    Nein, nicht das Licht. Etwas war dort, ein Sog, der an ihren Beinen zerrte, ohne sie zu berühren. Friedrich stemmte die Füße gegen die Holzbohlen und versuchte sie hochzuziehen. Schweiß perlte durch seinen Schnauzbart. »Du bist zu schwer«, stieß er zwischen zwei Atemzügen hervor. »Ich kann dich nicht hochziehen!«
    »Hilf mir!«, schrie sie. Seine Finger glitten an ihren Händen ab. Wieder wollte sie schreien, doch das Wasser drängte in ihren Mund. Sie wollte es ausspucken, warf den Kopf in den Nacken und tat einen gurgelnden Schrei. Mit aller Kraft versuchte sie sich dem Sog zu entziehen, versuchte zu strampeln, nach Friedrichs Händen zu packen …
    Ihr gelang nur ein letzter Atemzug. Das Wasser schlug über ihr zusammen, dunkel und kalt. Das Licht umschloss
sie, nur noch schemenhaft sah sie den Steg und Friedrich, wie er sich herabbeugte. Seine entsetzt aufgerissenen Augen, seine Hände, wie sie das Wasser durchpflügten, auf der Suche nach ihr. Allzu rasch wurde er kleiner, dann sah sie nichts mehr. Das Licht erlosch, wurde zu Schwärze. Sie hätte tot sein können, hätte nicht das Blut in ihren Ohren gerauscht und sie nicht gespürt, wie sich ihr Kleid bauschte und an der Hüfte verfing. Allmählich schmerzten ihre Schläfen, und die Lungen schrien nach Luft. Vor sich glaubte sie das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Justus … Niemand war da, sie starb allein. Sie würde sterben. In den Tod sinken.
    Aber das Licht kehrte zurück. Unter ihren Füßen pulsierte es, breitete sich aus und umschloss sie wie eine Röhre, bis sie vollkommen darin eingetaucht war. Eine Wasserpflanze trieb dicht vor ihrem Gesicht vorbei, weißlich glänzend. So unwirklich … Grazia wurde müde, konnte nicht mehr gegen den brennenden Wunsch, Luft zu holen, ankämpfen. Auch nicht gegen die Reue, auf den Steg gegangen zu sein. Was würde ihre Familie sagen? Ihre Eltern, die noch glaubten, sie läge im Bett? Ihr Bruder, der sich nun auf ewig Vorwürfe machen würde, ihr geholfen zu haben?
    Etwas leuchtete unter ihren Füßen, heller noch als das sie umgebende Licht. Eine kreisrunde Öffnung, wie das Ende eines Tunnels. Und das, was sie dort sah, war rot, ockerfarben, von harten Schatten durchzogen – eine Wüstenlandschaft. Sie wollte schreien, als sie erkannte, dass sie wie aus großer Höhe zu fallen drohte. Immer näher kam die Öffnung. Tief, tief unter sich erkannte sie Sanddünen und schroff aufragende Klippen. Dürre

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