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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Grazia war drauf und dran, ihm zu sagen, dass er es vielleicht ihr verdankte, den Kampf überstanden zu haben, aber da ihn offensichtlich alles in Harnisch brachte, schwieg sie lieber.
    »Vergiss mich, Grazia«, sagte er, ohne aufzusehen. »Das macht es uns leichter. Und jetzt sieh endlich zu, dass du fortkommst.«
    »Nein!« Sie schob sich an dem Sklaven vorbei, der ihr den Weg versperren wollte, und ging auf Anschar zu. Als sie ihn
fast erreicht hatte, fuhr er hoch. Sein eisiger Blick fuhr ihr durch alle Glieder.
    »Was willst du denn nur? Du hast mich über einer Kühlwanne hängen sehen. Du hast gesehen, wie ich eben beinahe gestorben wäre. Ich weiß nicht, was Mallayur als Nächstes mit mir anstellen wird, aber willst du dann wieder kommen und dem beiwohnen? Ich will nicht, dass du das siehst. Es quält uns doch beide. Verdammt, warum nur musste ich es sein, der dich in der Wüste findet?«
    »Wie meinst du das?« Sie ahnte die Antwort, und trotzdem begriff sie nicht.
    »Mallayur hat dein Buch verbrannt«, sagte er unvermittelt. »Es war falsch, es mir zu geben. Das hätte alles nie geschehen dürfen.«
    Verbrannt? Wie gemein dieser Mensch doch war, dachte sie bestürzt. Aber dann ging ihr auf, dass Anschar etwas anderes meinte. Das Buch, es stellte für ihn offenbar so etwas wie ein Band zwischen ihnen dar. Sie wollte ihm erklären, wie dumm es war, sich ihre Begegnung wegzuwünschen, wenn sie doch stattgefunden hatte. Glaubte er wirklich, dass er sie jetzt noch vergessen könnte? Ja, vielleicht konnte er das. Zumindest versuchte er es. Konnte sie es?
    »Ich will nicht einfach so gehen«, murmelte sie.
    »Soll ich dich prügeln, damit du gehst – und begreifst?«
    Das meinte er nicht ernst. Oder doch? Sie rührte sich nicht, vermochte es gar nicht, da sprang er auf und stapfte an ihr vorbei zur Tür. Der Sklave stolperte fast, als er vor ihm zurückwich. Anschar beachtete ihn nicht. Die Tür klappte, und er war fort.
    Grazia verließ ebenfalls den Raum. Auf dem düsteren Korridor atmete sie tief durch und machte sich daran, wieder den Weg zu den Zuschauerrängen einzuschlagen, doch sie hasste den Gedanken, sich im Streit von ihm trennen zu
müssen. Wer wusste, wann sie sich wiedersahen? Nein, das musste sofort geklärt werden; keinesfalls wollte sie, dass er zornig auf sie war.
    Seine Füße hatten trotz der Binden Spuren auf dem Steinboden hinterlassen. Sie führten in die andere Richtung. »Wohin ist er gegangen?«, fragte sie den Sklaven und deutete auf die Spuren.
    »Die Sklavenunterkünfte sind dort unten«, antwortete er.
    »Muss er immer da hausen?«
    »Ja, Herrin, wie wir alle. Mallayur macht bei ihm keine Ausnahme.«
    Sie nickte ihm dankend zu und folgte der Spur. Wahrscheinlich würde Anschar nicht wollen, dass sie ihn dort sah, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie stieg einen der unvermeidlichen düsteren Treppenschächte hinunter. Kurz glaubte sie Anschar zu hören, aber sie war sich nicht sicher, und als sie unten ankam, verlor sich die Spur. Drei Abzweigungen gab es hier, doch welche er genommen hatte, ließ sich nicht erkennen.
    »Anschar?«, rief sie leise. Jeder der Gänge wurde von Öllampen notdürftig beleuchtet. Kahl waren sie, kahl und trostlos. Und es war kalt. Sie wählte den Gang, der ihr am wenigsten abschreckend erschien. An seinem Ende führte eine weitere aus dem Felsen gehauene Treppe in die Tiefe. Unten glaubte Grazia Schritte zu hören, also lief sie weiter, fand aber nur einen weiteren Gang, der sich abermals verzweigte.
    Ich werde mich noch verirren, dachte sie. Aber solange die Gänge hier beleuchtet waren, musste es ja auch Menschen geben, die sich hier aufhielten. Was Madyur-Meya wohl sagen würde, wüsste er, dass sie wieder im Palast seines Bruders umherirrte? Womöglich hatte er ihr Verschwinden längst bemerkt.
    Erneut wollte sie nach Anschar rufen, als sie einen Schrei vernahm. War er es gewesen? Nein, es hatte sich eher nach
einem erschrockenen Jungen angehört. Nicht nur erschrocken – verzweifelt, ängstlich. Grazia fasste sich an die Kehle. Sie hätte daran denken müssen, dass hier unten nicht nur Sklaven wohnten, sondern auch bestraft wurden. Es war Zeit, umzukehren. Sie suchte den Weg zurück, fand ihn aber nicht. Ihre Angst wuchs, als sie durch die Gänge irrte. Voraus war eine beleuchtete Öffnung, darauf lief sie zu, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihr weiterhalf.
    Vor ihr öffnete sich ein großes Kellergewölbe, in das linkerhand eine Treppe

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