Das gläserne Tor
kämpfte das Erschauern nieder, weil sie befürchtete, es könne ihn stören. Als er den Kopf hob, gab sie nach und krümmte sich vor Wohlergehen.
Es gibt eine Lösung, wollte sie sagen. Flucht. Ja, Flucht. Es musste auf dieser Hochebene irgendwo einen Ort für ihn geben. Aber was half das, wenn er allein den Gedanken an Flucht von sich wies? Sie legte seine Hand auf ihre Wange und drückte sie an sich. Eigenartig schrundig fühlte sich seine Haut an. Doch bevor sie nachsehen konnte, warum das so war, entzog er sich ihr.
»Ich muss wieder zurück.«
»Nicht so schnell.«
»Doch, Feuerköpfchen.« Er schob sich zur Bodenklappe und öffnete sie. »Kann sein, dass Mallayur mich noch nicht vermisst, aber wer weiß das schon. Vielleicht tobt er ja längst, weil ich nicht da bin, sein Lob zu empfangen.«
Er stieg die Treppe hinab. Sie hörte, wie er Schelgiur um Schuhe bat. Hastig wischte sie sich die letzten Tränen an
ihrem Gewand ab und rang um Fassung. Erst als sie sich gefestigt glaubte, folgte sie ihm. Er war gerade dabei, sich ein Paar Sandalen überzustreifen. Sie traten hinaus auf die frei schwebende Treppe und machten sich wieder an den Aufstieg. Dieses Mal störte sich Grazia an der Höhe nicht mehr so sehr, aber das lag nur daran, dass ihre Gedanken ganz bei Anschar waren, bei dem Kampf und noch sehr viel mehr bei seiner Umarmung. Schweigend legten sie den Weg zur Brücke zurück. Immer wieder hielten die Leute inne, wenn sie Anschar sahen, und steckten die Köpfe zusammen. Natürlich hatte die ganze Stadt von dem Zweikampf gehört, und kaum dass er vorbei war, lief der Sieger durch die Straßen. Grazia war froh, dass niemand ihn ansprach. Sie wollte sich bei ihm unterhaken, aber da er die Geste nicht kannte, winkelte er bei ihrer Berührung den Arm nicht an. Aber er warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Dann waren sie auf der Brücke. Er blieb stehen.
»Du musst allein weiter.«
»Was wirst du jetzt tun?«
Der Wind, der durch die Schlucht peitschte, ließ seine Zöpfe aufwirbeln. Grazia musste mit beiden Händen ihre Haare aus dem Gesicht halten. Ihr Gewand tanzte bis hinauf zu den Knien, aber darauf konnte sie jetzt beim besten Willen keine Rücksicht nehmen. Anschar bemerkte es ohnedies nicht. Er umfasste ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. » Adieu «, sagte er, schob sie sanft vorwärts und ging nach Heria zurück. Sie sah ihm nach, hoffte, er werde sich noch einmal umdrehen, aber er stockte nur kurz und geriet außer Sicht.
Es war an der Zeit, den Tadel des Königs zu empfangen. Sie hatte den Tag in der Wohnung verbracht, sorgsam bewacht
von Buyudrar. Vom Rest der Festivitäten hatte sie nichts mitbekommen, und das war ihr auch recht. Henon war vor Furcht ganz aufgelöst gewesen; er hatte sich den Tod seines früheren Herrn in den schillerndsten Farben ausgemalt, und es hatte Stunden gekostet, ihn wieder zu beruhigen. Jetzt stand sie am Fuß der Stufenpyramide, auf der sie seit ihrer Ankunft das ein oder andere Mal mit dem Hofstaat gegessen hatte. Diesmal jedoch war die Halle leer, bis auf die allgegenwärtigen Vögel und das Paar oben auf der Kline. Der würzige Duft eines Essens hing noch in der warmen Abendluft. Es war fast dunkel geworden. Ein Sklave steckte einige brennende Fackeln in die Wandhalterungen.
Unter Fidyas gelbem Gewand regten sich Hände und Knie. Ihr offenes Haar bedeckte das Gesicht des Königs. Grazia begab sich auf die unterste Stufe, wo sie sich auf die steinerne Sitzbank hockte und die Finger in die Ohren steckte. Die unzüchtige Tätigkeit würde hoffentlich recht schnell erledigt sein. Seltsamerweise dachte sie ausgerechnet in diesem Moment an Anschars Umarmung und seinen Kuss. Es war ein äußerst sanfter Kuss gewesen. Oh, Anschar wusste ganz genau, dass er vorsichtig sein musste. Eigentlich war sie viel zu weit gegangen. Na schön, Friedrich und ihre Eltern waren weit weg, niemandem würde sie dafür Rechenschaft ablegen müssen. Dennoch spürte sie, wie sie errötete. Ohne die Finger aus den Ohren zu nehmen, blickte sie über die Schulter und reckte den Hals. Viel war nicht zu sehen – das nackte Knie des Königs, das aus dem Stoff herausschaute, Fidyas Hand, die sich unter das Gewand zu tasten versuchte. Eine ruckartige Beckenbewegung. Grazia wandte sich ab und gab ein lautes Husten von sich.
Nur Augenblicke später packte jemand ihren Arm. Sie ließ die Hände sinken. Der König beugte sich über sie, und er sah, trotz seines Schäferstündchens, nicht
Weitere Kostenlose Bücher