Das gläserne Tor
zittern.
»Lass mich das machen.« Sie zog einen Fuß auf ihren Schoß und wickelte den schmutzigen Verband ab. Dann tauchte sie das Tuch in die Schüssel und begann vorsichtig die geschundene Fußsohle abzutupfen. Das Schweigen störte sie. War er immer noch wütend? Sie glaubte es eigentlich nicht, und ihrer Meinung nach hatte er auch keinen Grund dazu.
Es sei denn wegen ihres dummen Hinterherlaufens, das sie beide in Gefahr gebracht hatte.
Er beschäftigte sich mit dem Bierkrug, schenkte sich ein und trank. Dabei zuckte er zusammen, denn ein Schnitt hatte wieder zu bluten begonnen, und sie musste mit einem Fingernagel hineinfahren, um Schmutz herauszuholen. »Das könnte sich entzünden«, meinte sie.
»Entzünden?«, fragte er verständnislos.
»Ich meine, die Wunde könnte rot werden und eitern. Und heiß werden, daher nennt man das Entzünden.«
»Ach so.«
»Was ist mit deinem Kopf?«
»Da ist nichts.« Er tastete dorthin, wo Darur ihn getroffen hatte, und kniff die Augen zusammen.
»Nein, nichts«, wiederholte sie. »Nur eine Beule, Blut und sicherlich Kopfschmerzen. Ich dachte, Darur schlägt dir den Schädel ein.«
Anschar zuckte die Achseln und schob ihr, als sie schließlich fertig war, einen gefüllten Becher hin. Die Wände wackelten, als unten offenbar ein Gast hingefallen war. Vielleicht war es auch der Beginn einer Schlägerei.
»Ich hasse die schwebende Stadt«, stieß sie ergeben hervor und trank.
Er lachte und fasste sich sogleich wieder stöhnend an den Kopf. »Wo geht ihr denn euer Bier trinken? Oder tut ihr das gar nicht?«
»Doch, oft sogar. An schönen Sommertagen gehen wir zu Onkel Toms Hütte , trinken dort ein Bier und essen zu Mittag. Aal grün , Spreewaldsoße , das vermisse ich so sehr.«
»Halt, nicht so viele fremde Wörter! Eine Schenke? Und der Wirt heißt Onkel Tom?«
»Nein, Onkel Tom ist ein …«, Grazia steckte die Nase in ihren Becher. Das war jetzt schwierig zu erklären.
»Was?«
»Ein Sklave. Das heißt, nicht der Wirt. Onkel Tom ist eigentlich …«
»Ihr habt also doch Sklaven«, unterbrach er sie.
»Sei doch ruhig! Das ist eine Geschichte. Die Gaststätte ist nach ihr benannt. Es gibt bei uns keine Sklaven. Es gibt auch keine Zweikämpfe. Oder Menschenopfer. Es ist … ach, ich weiß auch nicht. Argad ist so anstrengend.«
»Das hört sich an, als wäre deine wundersame Welt langweilig.«
Sie schwieg. Wie sollte sie auch erklären, dass dies für eine Frau gewiss zutraf, ein Mann dort jedoch Dinge tun konnte, von denen er nicht die geringste Vorstellung hatte?
»Es tut mir leid«, sagte er. Sie schaute auf. Die Härte war aus seinen Zügen gewichen. »Du bist gekommen, weil du dich gesorgt hast, und ich habe dich nur angefahren.«
»Ich bin dir nicht böse«, sagte sie erleichtert.
Er neigte den Kopf, sah sie von unten her an und versuchte ein entschuldigendes Lächeln, das arg hilflos geriet. »Ich befürchtete ja auch, dass ich dir nach diesem Kampf zuwider wäre. Das hat mich wohl auch etwas, hm … unfreundlich gemacht.«
»Niemals bist du mir zuwider, auch wenn ich ihn schrecklich fand.« Was sie heute mitangesehen hatte, war bisher das Entsetzlichste gewesen, von der Folter im Weinkeller abgesehen. Doch Anschars Anblick vertrieb die Erinnerung an den Kampf. Er jagte alles fort, was sie an dieser Kultur falsch und verwirrend fand.
Wie sie in seine Arme kam, wusste sie nicht. Aber mit einem Mal hielt er sie umschlungen. Der Schweißgeruch des Kampfes drang in ihre Nase. Sie mochte es, erinnerte es sie doch an ihre Zeit in der Wüste, als sie von dem, was ihn hier erwartete, noch nichts gewusst hatte. Sie bettete den Kopf an
seiner Schulter und konnte nicht an sich halten, hemmungslos begann sie zu weinen. Es tat so gut, auch wenn sie fand, dass er es eigentlich war, der Trost brauchte. Dieser fremdartige Mann, der vorhin einen Freund getötet hatte, war ihr näher als alles andere in dieser Welt.
»Ich kann es nicht ertragen, dass du so Schlimmes aushalten musst«, flüsterte sie.
Er fasste unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf, sodass sie ihn ansehen musste. Mit dem Daumen wischte er ihre Tränen ab, wie er es schon so oft getan hatte. »Dafür gibt es keine Lösung.«
Ihr kam in den Sinn, dass sein Gesicht das Erste war, was sie in dieser Welt gesehen hatte. Jetzt schwebte es so dicht über ihr wie noch nie. Sein Atem strich über ihre Lippen, und dann spürte sie den sanften Druck seines Mundes auf ihrem. Reglos wartete sie ab und
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