Das gläserne Tor
trotzdem – gab es keine Gnade? Mit versteinertem Gesicht nickte er Darur zu.
Sie wollte aufspringen, doch Fidya hielt sie fest. »Bitte, Grazia, bleib ruhig. Da kannst du nichts ausrichten.«
»Nein, bitte …«, brachte Grazia heraus, dann würgte sie, presste die Hand auf den Mund und kämpfte darum, nicht einfach loszuschreien. Ihr war so übel, dass sie in diesem Moment liebend gerne selbst gestorben wäre.
»Ich opfere dich dem Götterpaar, Anschar«, sagte Darur, auf ihn hinabblickend. »Möge dein Tod nicht umsonst gewesen sein und unserem Land die Fruchtbarkeit zurückgeben.« Leicht rüttelte er an Anschars Kopf. »Hörst du mich?«
Anschar leckte sich über die Lippen. Es sah so aus, als versuche er die Benommenheit abzuschütteln, damit er wachen
Sinnes in den Tod ging, aber zu gelingen schien es ihm nicht. Seine Hand umfasste Darurs Kniekehle, wie um Halt zu suchen.
»Es tut mir leid, Freund«, sagte Darur nun etwas leiser, aber deutlich hörbar. Er hielt ihm die Klinge an den Hals. Noch einmal sah er zum Meya hinauf.
»Töte ihn«, befahl Madyur.
Hinter seinen Beinen hob sich Anschars Hand, schien nach etwas zu tasten. Grazia stockte der Atem, als sie erkannte, dass er versuchte, Darurs Dolch an sich zu bringen. Rasch warf sie einen Blick zu Madyur, der die Stirn runzelte. Er bemerkte es also auch. Würde er oder ein anderer den Sieger warnen? Oder glaubte ohnehin niemand, dass der Besiegte, der so offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne war und wie ein Blinder herumtastete, jetzt noch etwas ausrichten konnte?
Anschar hatte den Dolch erreicht. Seine Finger schlossen sich langsam um den Griff. Unmöglich konnte es ihm gelingen, ihn zu ziehen, ohne dass Darur es spürte. Grazia streckte die Hand aus. Im nächsten Moment hatte Darur Wassertropfen in den Augen. Überrascht blinzelte er und schüttelte sie ab. Anschar hielt den Dolch in der Hand. Leicht hob Darur die Schwertklinge an, um sie ihm über die Kehle zu ziehen. Grazia stieß sich den Daumen in den Mund und biss zu.
Eine Sekunde später hieb Anschar den Dolch in Darurs Kniekehle.
Darur riss die Augen auf. Er machte einen Schritt seitwärts und knickte ein. Er ließ Anschar los, fiel auf die Seite, behielt aber sein Schwert in der Hand und versuchte es wie einen Spieß in Position zu bringen. Die Zeit, seinen Schmerz hinauszubrüllen, nahm er sich nicht; noch wirkte er wie der Herr der Lage. Doch da warf sich Anschar auf ihn, drückte mit der linken Hand seinen Schwertarm zur Seite, zerrte mit der rechten den Dolch aus der Kniekehle und stieß ihn in Darurs Hals.
So schrecklich der Anblick der Blutfontäne war, die aus der Halswunde spritzte, so sehr hätte Grazia vor Erleichterung aufschreien mögen. Anschars Keuchen war fast wie ein heiseres Brüllen, als er sich von Darur herunterwälzte und auf dem Rücken liegen blieb, ohne darauf zu achten, ob sein Hieb tödlich gewesen war. Er spreizte mühselig die zuckenden Finger, als er sie vom Dolch löste. Immer noch war es totenstill ringsum, sein Kampf um sich selbst deutlich zu hören. Ebenso Darur, dessen Körper wild erzitterte, bis der Blutstrom, der sich in den Krater ergoss, versiegte. Anschar rollte auf den Bauch, versuchte sich hochzustemmen und kam auf die Knie. Als er einen verletzten Fuß aufsetzte, entrang sich ihm ein Fluch. Schweiß – oder waren es Tränen? – troff an seinen Wangen herab. Er kämpfte sich an der Kraterwand hoch, bis er endlich stand. Dann blickte er zu Darur zurück.
»Mögen die Götter das Opfer annehmen!« Mit diesen Worten durchbrach Madyur die Stille. Grazia glaubte ein leises, stolzes Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen, obwohl er seinen Mann verloren hatte. Mallayur hatte das Handgelenk seiner Begleiterin so fest gepackt, dass sie aufstöhnte. Was sich auf seinem Gesicht abspielte, sah sie nicht, aber der Triumph war sicher groß.
Auf all das achtete Anschar nicht. Unsicheren Schrittes versuchte er zum Ausgang zu gelangen, hob unterwegs sein Schwert auf, musste sich dann auf die Knie stützen und von zwei Sklaven helfen lassen, die ihn unter den Achseln packten. Mit hängendem Kopf verschwand er in dem schwarz gähnenden Ausgang. Kaum war er fort, löste sich die Erstarrung von den Zuschauern. Jubel, Geschrei, Gelächter und noch sehr viel mehr war zu hören, doch Grazia interessierte das alles nur, weil es ihr half, unbemerkt zu verschwinden. Jetzt war der richtige Moment, denn der Meya starrte noch immer gedankenverloren in die
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