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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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missachten. Kurz drehte er sich im Sattel, um nach dem Palast von Argadye Ausschau zu halten. Er sah seine Terrasse, aber sie war leer; dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld, und ihm blieb nichts, als nach vorne zu schauen, auf eine scheußliche Zukunft. Er würde es aushalten. Henon hatte es ertragen, ein halbes Jahr. Da sollte es ihm auch gelingen. Diesen sechs Kriegern draußen vor der Stadt zu entkommen war nichts, woran er ernsthaft dachte, auch wenn es ihn vor keine allzu großen Probleme stellen würde. Flucht – das war nur ein Wort. Hätte Grazia es nicht ausgesprochen, nicht einmal das.

    In der nächsten Stunde wurde er von der Erkenntnis abgelenkt, dass er sie wohl nie wieder sehen würde. Das hatte er zwar auch geglaubt, als er nach Heria gegangen war, aber es hatten sich wider Erwarten Gelegenheiten für sie beide ergeben. Jetzt jedoch erschien es ihm undenkbar. Er hatte keine Ahnung, wie lange sein Herr ihn in den Werkstätten schmoren lassen wollte. Aber zweifellos lange genug, dass er bei seiner Rückkehr zu hören bekommen würde, sie sei gegangen. Der heilige Mann, der ihre Hoffnung war, nach Hause zurückzukehren, würde nicht ewig fortbleiben. Anschar fing an zu frieren, und das nicht nur, weil der Schweiß auf seiner Haut erkaltete.
    Der Weg führte sie hinaus aus der Stadt. Ostwärts ging es, tiefer in das Land hinein, vorbei an dürren Feldern. Es war noch keine Erntezeit, es war auch keine Zeit des Säens. Die Äcker lagen brach und rissig in der Sonne. Die Bäume in den Obstgärten zeigten sich mit braunen, brüchigen Blättern und nur wenigen jungen Früchten. Sie kamen an Wiesen vorüber, auf denen die rote Heria gezogen wurde. Sklaven standen in den Bewässerungsgräben, die von einem kleinen Fluss gespeist wurden, und schöpften brackiges Wasser. Noch vor wenigen Jahren waren die Wiesen zu dieser Zeit ein Meer aus Rot gewesen, prall in der Sonne leuchtend. Jetzt wirkte der Bestand armselig, und was folgte, war karger, hügeliger Boden, der seit einiger Zeit nicht mehr bearbeitet wurde. Eine Ödnis, die in der Ferne vom Hyregor begrenzt wurde. Es war kaum vorstellbar, dass das Götterpaar dieses Land einstmals als Polster für ihr Liebeslager gewählt hatte.
    Die Sonne sank, als sie eine Talsenke erreichten. Mittlerweile klebte Anschar die Zunge am Gaumen, aber er verbiss es sich, seine Begleiter um Wasser zu bitten. Sein Rücken brannte vor sich hin. Zwei mit Speeren bewaffnete Männer standen am Wegrand und starrten ihn an. Ochsengespanne,
die mit Felsengrasgarben beladen waren, trotteten auf eine wirre Ansammlung von Hütten und Steinhäusern zu, die man auf den ersten Blick für ein gewöhnliches Dorf halten mochte. Auch wenn Anschar hier noch nie gewesen war, wusste er, dass im größten der Gebäude das Papier hergestellt wurde. Irgendwo in den Hängen der Berge und im felsigen Gelände ringsum lagen die Graspflanzungen, die das Material lieferten. Händler verkauften die Ernte an die Werkstatt, und andere deckten sich mit dem fertigen Papier ein. Hier wirkte sich die Trockenheit nicht aus, denn das Felsengras schien nichts für sein Gedeihen zu benötigen. Eines Tages, so dachte Anschar, würde das Hochland nur noch aus Fels bestehen und von dem ledrigen Gras überwuchert sein.
    Vor einer der Hütten hielten sie an. Ein Wachtposten wankte heraus, blinzelte gegen die untergehende Sonne und riss die Augen auf. Sofort schrie er nach Verstärkung.
    »Beruhige dich«, sagte der Führer der Eskorte. Er beugte sich hinunter und reichte dem Mann eine Schriftrolle. »Gib das dem Leiter der Werkstatt, darin ist alles erklärt.«
    »Ja, aber, aber … Das ist …«
    »Fall nicht gleich in Ohnmacht.« Anschar sprang ab. Beim Anblick seines Rückens würde der Mann es wohl tun. Er würdigte seine Eskorte keines Blickes mehr, als er den Umhang auf das Pferd warf; er hörte nur, wie die Männer wendeten und davonritten. Der Wachtposten beäugte ihn vorsichtig.
    »Du willst wirklich da hinein?«
    »Ich muss. Was soll die Frage?«
    »Ja, äh … dann folge mir. Anschar. Du bist doch Anschar?«
    »Ja.«
    »Große Götter. Große Götter! Erst heute früh habe ich von deinem Zweikampf gehört, und jetzt bist du hier.« Kopfschüttelnd marschierte der Wächter voraus, auf ein kleines
Steinhaus zu, an dem er anklopfte. Ein Sklave ließ sie ein und brachte sie in einen kühlen Raum, in dem ein Mann an einem Tisch saß, vor sich mehrere Papierstapel. Eines hielt er vor die Nase, roch daran und strich

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