Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
Tehrech. Auch der blickte finster drein, nahm seine Leine und streckte den Arm, sodass sie das Geflecht berührte, das die Halle überzog. Mit dem kurzen Grasstück knüpfte er die Leine daran fest.
    »Schöne feste Knoten, ja?«, sagte Fargiur, der wieder eine Runde um die Becken drehte. »Schlampigkeit dulde ich nicht, das wisst ihr.«
    Auch Parrad hatte die Leine mit dem Geflecht verbunden. Nun war sie so straff, dass Anschar nur noch einen Schritt in jede Richtung gehen konnte. Vorsichtig zog er daran.
Das Geflecht über ihren Köpfen neigte sich nur leicht. Jetzt begriff er, was es mit dieser Art der Bestrafung auf sich hatte. Sie konnten den Beckenrand nicht erreichen. Sie waren dazu verdammt, hier in der Brühe zu stehen, und nur Fargiur würde wissen, wie lange. Nach Parrads verzweifeltem Flehen zu urteilen, konnte es sehr lange sein.
    »Und jetzt weitermachen!« Fargiurs Stimme rollte über die Köpfe der Sklaven hinweg. Allenthalben platschte und gluckerte die Brühe, als sie wieder bearbeitet wurde. Finster stierte Tehrech vor sich hin; der junge Mann ihm gegenüber schniefte und kämpfte sichtlich um Fassung. Parrad hatte die Finger um die Leine gekrallt und den Kopf gesenkt.
    »Anschar«, sagte er. »Ich hasse dich.«
    »Dann weißt du ja endlich, was ich für dich empfinde.«

17

    G razia fragte sich, ob sie Heria so gerne zeichnete, weil sie hoffte, irgendwann einmal Anschar dort unten zu entdecken. Mittlerweile kannte sie jede Einzelheit der Stadt jenseits der Schlucht, so weit sie sich von der Terrasse aus überblicken ließ. Da war der Palast mit seinen vier Geschossen, den blau gefliesten Pfeilern und der mit farbenprächtigen Bildern versehenen Umfassungsmauer. Dann der kleine Platz davor, der das Palastgelände von der Schlucht trennte. Kleine pittoreske Häuser links und rechts des Platzes. Jeden Morgen öffnete als Erstes die Weinhandlung ihre Tür, dann rollten Sklaven riesige Tonkrüge heraus, damit Palastbedienstete
probieren konnten. Stets entspannen sich lebhafte Gespräche zwischen dem Händler und seinen Kunden. Zu hören war auf die Entfernung wenig, aber ihre heftigen Gesten waren dafür umso beredter. Grazia hatte sie alle auf Papier verewigt: die Bäcker mit den Karren, auf denen sich Brotfladen stapelten; die lärmenden Kinder, die über den Platz rannten und in schöner Regelmäßigkeit von den ansässigen Händlern verscheucht wurden. Sogar die leicht bekleideten Herschedinnen hatte Grazia nicht außer Acht gelassen. Die Frauen suchten allabendlich die Nähe der beiden Palastwächter auf und taten – ja was? Ihre Gestik war schwer zu deuten, aber das lüsterne Grinsen der Männer unübersehbar.
    Der Palast selbst war ebenso prächtig wie düster. Nein, düster waren allein ihre Erinnerungen an das schreckliche Erlebnis dort in den Kellergewölben. Grazia kaute am Griff ihres Zeichenwerkzeugs. Die Erinnerungen, die sie mit Anschar teilte, waren allesamt keine angenehmen. Sie fragte sich, wie eine Frau, sollte er je eine haben, es an seiner Seite aushielt. Doch wie immer, wenn sie daran dachte, drängten sich andere Bilder auf und ließen sie die Schwierigkeiten vergessen. Seine Umarmungen. Sein Kuss. Seine Sorge um sie, die sich mal zärtlich, mal ruppig äußerte. Wie schlecht es ihr an jenem Festtag im Tempel ergangen war, hatte sie längst vergessen. Ihre Kopfschmerzen, die sie noch Tage danach geplagt hatten, die ärgerliche und enttäuschte Miene des Meya … All das war verblasst, nicht aber Anschars Gesicht dicht über ihr. Seine Hand auf ihrer Stirn. Seine laute Stimme, aus der so viel Furcht gesprochen hatte. Sie stützte den Kopf auf die Hände und seufzte auf. Warum schaffte sie es nicht, es sich zu verbieten, über ihn nachzudenken? Anschars Schicksal dort drüben im Palast war schlimm, aber ändern konnte sie daran nichts. Ihr eigenes wartete zu Hause. So und nicht anders war es, und wenn sie noch so oft an ihn dachte.

    »O Gott!«
    Ein unverhoffter Windstoß hatte die auf der Brüstung ausgebreiteten Zeichnungen erfasst. Grazia warf sich auf sie, doch eine segelte davon, hinunter in die Schlucht. Es war die zweier kämpfender Krieger. Sonderlich gelungen war ihr die Zeichnung nicht. Männerkörper waren ungleich schwieriger zu zeichnen als Gebäude, noch dazu aus dem Gedächtnis. Trotzdem – ausgerechnet diese! Auch die argadische Welt war ungerecht.
    Sie schichtete die verbliebenen Blätter übereinander und trug sie in den Salon. Jemand hämmerte an die Tür.

Weitere Kostenlose Bücher