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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Aufenthalt nur beenden zu können, indem er sich verhielt, wie Mallayur es erwartete. Er würde endlich begreifen müssen, dass er ein Sklave war. Er würde kriechen müssen. Vor Mallayur. Egnasch. Fargiur.
    Er fragte sich, was geschähe, würde er sie alle töten. Aber das war eine müßige Überlegung, denn Fargiur war der Einzige, dessen er habhaft werden konnte. Danach würde er zum Richtplatz geführt werden. Parrad hatte ihm gezeigt, wie Sklaven, die gegen ihre Herren aufbegehrten, hier bestraft wurden. Man hing sie einfach an ihrer Leine an eine senkrecht aufragende Felswand, nur wenige Handbreit über dem Boden. Die Wand war leer gewesen, doch Anschar hielt es nicht für abwegig, dass sie bald wieder ein Opfer fände. Vielleicht sollte er nicht kriechen. Vielleicht sollte er sich eine Waffe besorgen.

    »Was denkst du?«, fragte Parrad.
    »Wirres Zeug.«
    »Ich kann mir denken, was. Erging mir anfangs ähnlich.«
    Anschar wollte ihn anschreien, dass er das nicht wissen könne, aber er wurde es allmählich leid, mit Worten um sich zu schlagen. Die Arbeit war kräftezehrend, und die Aussichtslosigkeit machte ihn müde.
    »Ich hatte drei Frauen, und sie waren jede auf ihre Art einzigartig«, fing Parrad unvermittelt an. »Ich weiß wirklich nicht, wieso du meinst, die Frauen meines Volkes sähen alle gleich aus.«
    Anschar schwieg. Die Frage, wie Parrad jetzt darauf kam, ersparte er sich. Er merkte ja selbst, wie hier die Gedanken in sämtliche Richtungen sprangen.
    »Hast du eine Familie?«, fragte Parrad.
    »Nein.«
    »Auch keine Frau zurückgelassen?«
    Anschar stockte. »Nein.«
    »Das kam etwas zögerlich.«
    »Ich habe keine Frau.«
    Parrad hob das Hüfttuch, um sein Wasser abzuschlagen. »Dann hast du es besser als ich. Jede Nacht bete ich zum Herrn des Windes, dass meine Frauen und Kinder nicht den verfluchten Sklavenfängern in die Hände fallen. Lieber sollen sie in den unwirtlichsten Gegenden der Wüste hausen, wo kein Mensch hinkommt. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich mit ihnen weiterwandere, immer weiter, bis wir auf das unbekannte Meer stoßen. Kennen die Argaden die Geschichte von dem unbekannten Meer irgendwo jenseits der Wüste?«
    »Vor undenklichen Zeiten gab es ein Meer. Alles andere ist unsinnige Träumerei.«
    »Du bist der verdrossenste Kerl, den ich kenne. Du solltest
dir wirklich eine der Frauen schnappen, damit sie dich wenigstens für kurze Zeit auf angenehme Gedanken bringt.«
    »Ich fasse keine Wüstenfrau an.«
    »Ja, ich weiß, du als Argade glaubst, unsere Weiber wären nur Tiere, die es gar nicht richtig wahrnehmen, wenn man sie sich nimmt. Willst du wirklich nicht wissen, ob es dieses Meer gibt?«
    »Bei Inar, Parrad! Ich will nichts wissen, lass mich in Ruhe treten.«
    »Wasser von den Füßen, wo man steht, bis zum Horizont. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Nein. Was muss ich tun, damit du schweigst? Dich untertauchen?«
    Der Wüstenmann grinste, aber es sah kläglich aus. Fortan hielt er den Mund. Inzwischen war ohnehin so viel Zeit vergangen, dass niemand mehr seinen Atem auf unnütze Gespräche verschwendete. Das Schnaufen und Keuchen erfüllte die Halle, und ab und zu knallte eine Peitsche, wenn es einer der Sklaven frühzeitig wagte, sich an den Rand zu setzen. Anschar verfluchte innerlich seine brennenden Füße. Er sehnte sich danach, hinauszusteigen und zum Brunnen zu laufen, um die Brühe herunterzuwaschen. Wie war es, wenn man die Füße ins Meer hielt? In dieser Welt konnte man das nicht, aber in der preußischen. Salziges Wasser, Wellen, Muscheln, Schiffe, Delfine . Delfine? Er versuchte sich zu erinnern, was dieses Wort bedeutete, aber er kam nicht mehr darauf. Grazia hatte so viel erzählt. Von untergegangenen Küstenstädten und Sintfluten. Von Schiffen mit mehr als hundert Menschen darauf und von gefrorenen Wasserschichten, die so dick waren wie ein Mann hoch. Von einer Liebesgöttin, die nackt und nur von hüftlangem Haar umhüllt auf einer Muschel schwebend aus dem Meer gekommen war. Allerdings passte diese Geschichte nicht zu der von den überdachten Umkleidewagen, die an den
Wassersaum gezogen wurden, damit die Frauen zum Baden ins Meer steigen konnten, ohne gesehen zu werden. Eine dieser beiden Erzählungen musste erfunden sein.
    Als Fargiur das Zeichen gab, dass sie sich ausruhen durften, hockte er sich an den Beckenrand und zog die Beine an. Seine Wadenmuskeln zitterten. Parrad kroch stöhnend heraus. Er litt unter Krämpfen und hielt Anschar die

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