Das gläserne Tor
Das war nicht Henon, denn der pflegte zaghaft zu klopfen, sodass sie es oft überhörte. Diesmal jedoch schien ein Hagel auf das Türblatt niederzugehen. Grazia legte die Zeichnungen auf den Tisch, während ihr Leibwächter den Türriegel zurückschob und öffnete. Ein Mann stapfte herein, mit Henon über der Schulter. Das Schwert schien in Buyudrars Hand zu springen; im nächsten Augenblick lag es an der Kehle des Fremden.
»He, ganz ruhig«, sagte der Mann, dem sofort das Blut aus dem vor Anstrengung erhitzten Gesicht wich. »Ich soll den hier doch nur herbringen. Der Sklave ist in Schelgiurs Hütte zusammengebrochen.«
»Dort hinein.« Grazia wies auf das Schlafzimmer und lief voraus, um die Decken zurückzuschlagen. Als der bullige Kerl, der entsetzlich nach Schweiß und Bier stank, Henon hereintrug, begann dieser zu zappeln.
»Ich bin wach, Herrin«, rief er mit kläglicher Stimme. Etwas unsanft wurde er auf der Matratze abgelegt. Die Belohnung, die der Fremde empfing, war die Spitze der Schwertklinge, mit der Buyudrar ihn gnadenlos aus der Wohnung drängte. Grazia fand das beschämend, aber jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Sie füllte einen Becher mit Wasser und hielt ihn Henon
hin. Er hob sich auf einen Ellbogen und nahm ihn zögerlich entgegen. Er wusste von ihrer Gabe, was sich nach dem ersten drängenden Besuch des Königs nicht hatte vermeiden lassen. Aber so gut ihm das Wasser auch schmeckte, geheuer war es ihm nicht.
»Soll ich einen Palastarzt holen lassen?«, fragte sie.
»Nein!« Hastig trank er den Becher leer. »Nein, Herrin, Verzeihung! Bitte, das – das ist nicht nötig«, stammelte er. »Ich war nur so erschrocken, da dachte ich, mir bleibt das Herz stehen. Mir sind die Knie ganz weich geworden, und da bin ich einfach hingefallen.«
»Henon …«
»Sie haben ihn in die Papierwerkstätten geschickt! Schon vor zwei Monaten!«
»Anschar?«
Henon hatte den Kopf vergraben und nickte ins Kissen. Grazia rechnete schnell nach. Vor zwei Monaten war das Fest des Götterpaares gewesen. Also war Anschar tatsächlich für sein Eingreifen im Tempel bestraft worden. Und sie hatte nichts davon gewusst. Ihre ständigen Nachfragen, wie es ihm ging, waren ungehört verhallt. Niemand hatte es gewusst.
»Schelgiur hat dir das erzählt?«, fragte sie.
Schniefend setzte sich Henon auf und trocknete sich mit dem Saum seines Rocks die Augen. »Ja. Irgendein Papierhändler, der Anschar dort gesehen hatte, trug ihm die Nachricht vor ein paar Tagen zu.«
»Aber Henon, was ist so schlimm an diesen Werkstätten? Ich könnte mir vorstellen, dass es Anschar sogar lieber ist, nicht im Palast von Heria sein zu müssen.«
»Herrin, bitte frage nicht nach. Bitte nicht!«
Grazia stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. Der alte Sklave hatte wahrhaftig keine Ahnung, was man sagen musste, um eine aufgewühlte Frau zu beruhigen. Doch wollte sie es
wirklich so genau wissen? Da war sie sich gar nicht so sicher.
»Das ist nicht alles, was Schelgiur mir erzählt hat«, sagte Henon.
»Nein, bitte nicht noch mehr schlechte Nachrichten!«
»Nein, nein, es ist ja eine gute.« Er zog die Nase so laut hoch, dass sie aufsprang und eines der Taschentücher holte, die sie sich hatte zurechtschneiden lassen. Umständlich schnäuzte er hinein und tupfte sich die Nase ab. »Der heilige Mann ist zurück, Herrin. Man hat ihn im Osten gesehen, irgendwo da, wo er haust. Und später sogar hier in der Stadt. Er kam auf einem Pferd, belud es auf dem Markt mit Vorräten und verschwand wieder.«
»Wohin? In seine Einsiedelei?«, fragte sie atemlos.
»Ja, gewöhnlich bleibt er erst einmal eine Weile dort. Aber so genau kann man das nie wissen. Das sagte Schelgiur jedenfalls. Wirst du jetzt gehen?«
»Wenn der König mich lässt? Henon, was soll ich eigentlich mit dir tun, wenn ich gehe? Dir die Freiheit schenken darf ich ja nicht.«
Sie konnte sehen, dass ihm ein Kloß im Hals steckte. »Dann wüsste ich ja auch nichts mit mir anzufangen. Wahrscheinlich käme ich zurück in die Palastküche. Aber ich nehme es hin, wie es kommt; mach dir um mich keine Gedanken. Ich wünsche dir so sehr, dass du nach Hause findest.«
»Danke, Henon.« Noch einmal ging sie in den Salon und holte aus den Vorratstöpfen Brot und Käse. Es war krümeliger Sturhornkäse, der so streng schmeckte, wie das Tier roch, sich aber bei dieser beständigen Hitze erstaunlich gut bevorraten ließ. Henon nahm die Schale entgegen und fing zaghaft an zu essen. Dann wandte sie
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