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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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nütze.«
    »Das kannst du gar nicht wissen«, erwiderte er erstaunlich ruhig. »Du bist jetzt nur verstockt. Gewiss, du kannst nicht ganz Argad bewässern, das weiß ich auch. Aber grundlos wird dir der letzte Gott seine Gabe ja nicht geschenkt haben.«
    »Warum glaubst du das? Was, wenn nun gar nichts dahintersteckt? Er war auf der Flucht, das sagen jedenfalls eure Priester. Also, wenn ich auf der Flucht wäre und hätte etwas bei mir, das ich in der Gefangenschaft nicht gebrauchen kann, würde ich es auch dem Erstbesten in die Hand drücken, der mir begegnet. Ganz ohne Hintergedanken.«
    Madyur hob die geballten Fäuste und ließ seine Stimme in gewohnter Manier erschallen. »Was ist das denn für ein hanebüchener … Ah, diese Frau! Du glaubst zu wissen, wie ein Gott denkt? Das weiß ja nicht einmal ich.«

    »Und weil du es nicht weißt, kann ich dir nicht helfen.« Grazia knabberte am Daumennagel. Mit dem Wasser, das sie zu schaffen imstande war, konnte sie bestenfalls den Palastgarten versorgen. Aber das war es auch schon. Ein wenig war sie zornig auf diesen Gott, weil er ihr ungefragt eine Last aufgehalst hatte, die für zwei schmale Menschenschultern einfach zu groß war. Wer war sie schon? Eine junge, unbedarfte Frau, die das Leben noch nicht einmal richtig entdeckt hatte. Die sich für Altertümer interessierte und gerne in Büchern stöberte und davon träumte, einmal einen Mann zu haben, der ihr ihre kleinen Schrullen ließ. Anderes hatte sie bisher nicht vom Leben erwartet. Kinder irgendwann, o ja. Promenaden auf der Pfaueninsel, böhmische Marschpolkas im Tiergarten, Fassbrause bei Onkel Tom und irgendwo Küsse in einer lauen Sommernacht. Und dass sie einmal dorthin käme, wo sie sich immer hingeträumt hatte: zur Ausgrabungsstätte von Troja oder der Akropolis, um all die Wunder der Vergangenheit mit eigenen Augen zu sehen. Argad war auch ein Wunder, ein viel größeres, aber es hatte nichts mit ihr zu tun. Das Heimweh überkam sie wie seit vielen Tagen nicht mehr.
    Sie wandte sich ab, tastete nach ihrem Taschentüchlein und tupfte sich die Augen. Dann zog sie die Nase hoch und sagte entschlossen: »Ich möchte zu dem heiligen Mann und ihn fragen, ob er mir helfen kann, zurück in meine Welt zu kommen. Bitte lass mich gehen.«
    Madyur stieß sich von dem Tisch ab und baute sich vor ihr auf. »Es wäre mir recht, wenn du deinen Aufenthalt zumindest in nicht allzu schlechter Erinnerung behieltest«, sagte er und klang dabei mühsam beherrscht. »Ich würde es sehr bedauern, wenn du dich bei deinem König Wilhelm über mich beklagtest.«
    »Das werde ich nicht tun«, versprach sie. Wäre nur alles so einfach wie das!

    »Doch vorerst kann ich dich nicht gehen lassen! Stell dir vor, du bist weg, und dann findet sich die Antwort, warum du diese Gabe besitzt? Was dann?«
    »Aber …«
    »Nein!« Er hielt ihr den Zeigefinger dicht vor die Augen. Unter seinem herrischen Blick glaubte sie zu schrumpfen. »Du kannst mich nicht umstimmen. Und ich streite auch nicht mit dir. Du hast irgendeine Art an dir, die mich dazu bringt, mich dir gegenüber zu rechtfertigen, und das gefällt mir nicht.«
    »Aber …«
    »Buyudrar, bring sie zurück in ihre Gemächer!«
    Er ging zum Tisch, nahm eines der Papiere an sich und fing an zu lesen. Zumindest tat er so, als habe er sie augenblicklich vergessen. Enttäuschender hätte die Audienz kaum verlaufen können. Grazia verneigte sich, aber er achtete nicht länger auf sie. Auf seinen beiläufigen Wink hin öffnete sein Leibdiener die Tür und ließ die wartenden Gesandten herein. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie schlüpfte in Buyudrars Begleitung auf den Korridor. Was sollte sie jetzt tun? Weglaufen? Selbst wenn sie es aus dem Palast schaffte, so wäre sie dort draußen hilflos. Und würde sie nicht das Gefühl quälen, Anschar im Stich gelassen zu haben? Der Schmerz in ihrer Brust, den sie als Sehnsucht nach ihrem Zuhause deutete, wandelte sich erneut in Sorge um ihn. Es war verzwickt! Am liebsten würde sie sich neben Henon ins Bett werfen und gemeinsam mit ihm klagen und jammern, sodass es die ganze Stadt hörte.

    Tehrech kniete über dem Körper seines Leinengefährten. »Er hat es selbst getan!«, schrie er und schüttelte ihn, doch
der Junge rührte sich nicht. »Ich war es nicht. Ich war es nicht!«
    Anschar hielt es nicht für ausgeschlossen, dass der junge Sklave sich in der Nacht das Leben genommen hatte, wie auch immer das vonstattengegangen sein sollte.

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