Das gläserne Tor
Vielleicht hatte er einen anderen gebeten, die Schlinge zuzuziehen. Er wirkte entspannt, fast zufrieden. Einer der Sklaven wagte es, seine Wange zu berühren. Tehrech schlug seine Hand beiseite.
Fargiur entrollte die Peitsche, während ein zweiter Aufseher im Schein einer Fackel die Leine durchschnitt, die Tehrech mit dem Toten verband, und sie an einen Pfosten der Hütte knüpfte. Furcht glomm in Tehrechs Augen. Sklaven, deren Kameraden auf unerklärliche Weise starben, endeten meist auf dem Richtplatz. Da sie eine Arbeitskraft auf dem Gewissen hatten, besaßen sie selbst keinen Wert mehr, denn wer mochte wissen, ob es ihrem nächsten Genossen nicht ähnlich erging?
»Ihr andern, alle aufstehen und zu den Becken«, befahl Fargiur. »Ihr werdet bis in die Nacht durcharbeiten.«
Anfangs hätte Anschar widersprochen, denn was hatten sie mit dem Tod des Sklaven zu tun? Mittlerweile gehorchte er schweigend, wie alle anderen. Es war nicht das erste Mal, dass sie unberechtigterweise an das Hallennetz gebunden wurden, und es würde nicht das letzte Mal sein. Wenigstens hatte er ein paar Stunden geschlafen, bevor Tehrechs Entsetzensschrei die Aufseher angelockt hatte, mitten in der Nacht.
Ein Sklavenpaar wurde abkommandiert, um den Toten zu verscharren; die anderen gingen hinüber zu den Hallen und stiegen in die Becken. Anschar bekam ein kurzes Stück Grasgeflecht in die Hand gedrückt, mit dem er die Leine ans Netz knüpfte. Jede einzelne Faser verknotete er sorgfältig, denn wer hier Nachlässigkeit walten ließ, konnte sich auf dem
Richtplatz wiederfinden. Mehrmals hatte er in Erwägung gezogen, dafür zu sorgen, dass genau das geschah, denn war der Tod diesem Dasein nicht vorzuziehen? Manchmal dachte er an den Großen See inmitten des Hochlandes, auf dessen grünen Inseln die Toten lebten, wenn Nihar, der Richter ihrer Seelen, sie für würdig erachtete. Die anderen stieß der Erdgott hinab in den tiefsten Fels, wo sie Stein und Kälte wahnsinnig machten. Wohin die Seelen der Wüstenmenschen gingen, wusste Anschar nicht. Vielleicht zu ihren Sandgeistern.
Es war das Wissen um Mallayurs Absicht, das ihn am Leben hielt. Sein Herr wollte ihn erziehen, nicht umbringen. Irgendwann musste der Tag kommen, wo er sich davon überzeugen ließ, dass sein Leibwächter ein brauchbarer Sklave geworden war. Anschars letzte Schlägerei lag immerhin elf Tage zurück.
Das ekelhafte Gefühl, allein durch sein Hiersein beschmutzt zu werden, war einer bohrenden, aber irgendwie erträglichen Unzufriedenheit gewichen. Es machte ihm nichts mehr aus, unter Wüstenmenschen zu sein. Er störte sich nicht mehr daran, wenn Parrad ihn mit unverständlicher Beharrlichkeit seinen Freund nannte, obwohl er dies nach wie vor hasste. Es beschämte ihn nicht mehr, wenn er während des Tretens ins Becken urinieren musste. Wie viele andere besaß er nicht einmal mehr ein Hüfttuch, denn seines hatte sich irgendwann in Wohlgefallen aufgelöst, und Ersatz gab es nicht. Seine Füße brannten nicht mehr, stattdessen fühlte sich die Haut bis zu den Knien wie ein zu straff gespannter Bogen an und juckte, sodass er ständig daran herumkratzte. Auch das kümmerte ihn wenig. Nur eines brachte ihn nach wie vor zur Weißglut: die Leine und die damit einhergehende Unbeweglichkeit. Dass er Parrad oder sich selbst nicht längst damit erwürgt hatte, war ein kleines Wunder.
Wie immer, wenn das eintönige Treten ihn einhüllte, glitten seine Gedanken zurück nach Argadye, zurück zu jenem Moment, als er Grazia in einer Kammer des Tempels auf die Polster einer Liege hatte sinken lassen. Jede Einzelheit hatte er im Gedächtnis behalten. Seine Angst um sie. Ihre Augen, die sich langsam öffneten. Die Erleichterung, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, als sie ihn erkannte. Er sah noch jede Wimper, jeden Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe. Er glaubte ihren Duft zu riechen, wenngleich das in dieser Halle unmöglich war. Er spürte noch ihre erhitzte Stirn unter seinen Fingern. Sogar an den silbernen Ohrring konnte er sich erinnern, wie er gegen seinen Hals gependelt war, als er sich nach seinem schreienden Herrn umgedreht hatte. Da hatte er schon gewusst, dass ihm Ernstes blühte, und Grazia loszulassen, war eines der schwierigsten Dinge gewesen, die er je getan hatte.
Warum nur hatte er nicht die Gelegenheit genutzt, sie noch einmal zu küssen? Eine zweite würde er nie wieder haben. Sicher war sie längst fort. Doch die Möglichkeit, dass es vielleicht nicht so
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