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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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hatte sich einen
Rock aus einer seiner Truhen geholt und umgebunden. Seine nassen Sachen lagen auf dem Boden verstreut. Er stand am Tisch und hielt den Kopf gesenkt. Vorsichtig breitete er ihre Zeichnungen aus, aber was er in die Hand nahm, war ein leeres Blatt Papier, das er sich an die Nase hielt. Er tat einen tiefen Atemzug. Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu, er knüllte das Blatt zusammen und warf es quer durch den Raum. Da erblickte er sie und erstarrte.
    Grazia hatte sich so sehr nach seinem Anblick gesehnt. Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen? Als sie im Tempel gewesen war. Damals hatte sie nicht gewusst, dass es so lange dauern würde, bis sie ihn wiedersah. Sie schloss die Augen. Stellte sich vor, wie er fortging. Dass er gar nicht hier war und sie, wenn sie wieder hinsah, nur eine leere Wohnung vorfand. Langsam öffnete sie die Augen.
    Er stand unmittelbar vor ihr. Seine Hand beschattete ihr Gesicht. Sie fühlte seine Fingerspitzen über ihre Züge gleiten, als müsse er sich vergewissern, dass sie wirklich da war. Ein langer Seufzer entrang sich ihm.
    »Es war nicht umsonst«, flüsterte er.
    »Was meinst du?«
    Sein Blick glitt an ihr vorbei. Leicht schüttelte er den Kopf. »Wo ist Henon?«
    »In den Palastgärten. Ich weiß ja, wie gern er dort sitzt, und habe ihn hinausgeschickt.«
    Zaghaft strich sie über seine Wange. Seine Haut war glatt von einem Öl, aber seine Züge waren härter. Sie glaubte etwas von dem darin zu erkennen, was er durchgemacht hatte. Du bist immer noch schön, wollte sie sagen, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Als sie an seinem ungewohnten Bart zupfte, nahm er ihre Hand und führte sie an seinen Mund.
    »Lass mich aus deiner Hand trinken. Ich habe Durst.«

    Sein Ansinnen brachte sie aus der Fassung. Sie musste kichern. »Ganz wie du willst, aber halt still.«
    Seit sie sich dem Meya verweigert hatte, war ihr kein Wasser mehr aus den Händen gekommen. Doch jetzt fiel es ihr ganz leicht. Anschar begann zu schlucken, konnte den Fluss aber nicht bewältigen. Das Wasser sprudelte an ihm herab. Lachend schob er ihre Hand weg und wischte die Tropfen von seinem Oberkörper.
    »Du bist unglaublich! Sag, könnte ich auch aus deinem Mund trinken?«
    »Das sollte gehen«, erwiderte sie und spürte, wie sie errötete. Seine Hände legten sich um ihren Hals.
    »Dann zeig es mir.« Er küsste sie und öffnete den Mund. Auf diese Idee wäre sie von sich aus nie gekommen, so abwegig erschien sie ihr. Dies war um einiges schwieriger, und sie musste sich konzentrieren. Ihre Hände wurden nass, ihr Mund war trocken. Plötzlich füllte er sich, und Anschar trank.
    Erst als er hustete, hörte sie auf. War es zu viel gewesen? Er wischte sich über die Lippen und schien dem seltsamen Kuss nachzusinnen. Beinahe ehrfürchtig sah er sie an, aber dann lächelte er und trat ein Stück zurück. »Wirklich unglaublich. Aber fast noch unglaublicher finde ich den Gedanken, dass ich dies schon in der Wüste hätte haben können. Ich könnte mich im Nachhinein noch ärgern, dass du es mir so lange vorenthalten hast!«
    »Das tut mir leid.«
    Er legte einen Finger auf ihren Mund. »Schon gut. Ich verzeihe dir gnädig. Aber nur, wenn du auch meinen Hunger stillst.«
    »Es ist Brot da. Und etwas Obst.«
    »Ah, hm. Ich dachte eigentlich an etwas anderes. An Birnen oder so.«

    »Birnen? Aber die gibt es hier doch gar nicht.« Die Art, wie er sie ansah, ließ in ihr den Verdacht keimen, dass er von etwas anderem sprach. Sie erinnerte sich an seinen schamlosen Griff zwischen die Beine, nachdem sie vor dem Großkönig das Gedicht vom Herrn Ribbeck aufgesagt hatte. Sie beeilte sich, zu dem Regal mit den Tontöpfen zu kommen, damit er ihre Verwirrung nicht bemerkte. Was er mit dieser Handbewegung hatte aussagen wollen, wusste sie immer noch nicht so genau.
    Von dem Brot, das sie ihm brachte, aß er nur einen Bissen. »Wenn ich schon die Gelegenheit habe, mir den Bauch vollzuschlagen, will ich auch anständiges Essen.«
    »Was denn?«, fragte sie. Es kam nur ein müdes Achselzucken. Sie eilte zur Tür und bat einen der Sklaven auf dem Korridor, ihr etwas zu essen zu bringen. Zurück in der Wohnung schloss sie die Tür und schob den Riegel vor.
    »Warum tust du das?«, fragte er. Was mochte er daran so erstaunlich finden? Aber sie erinnerte sich daran, dass er sein ganzes Leben in offenen Räumen verbracht hatte, während es für sie selbstverständlich war, ihre zu verschließen.
    »Es beruhigt mich eben«,

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