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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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sie in seinen Armen. Wenn diese … Sache auch nur halb so schön war, wie hier bei ihm zu sein, lohnte es sich, das Wagnis einzugehen. Dennoch, die Angst davor saß ihr tief im Magen. Genügte nicht diese Umarmung? Den Druck seiner Arme zu spüren, seine Wärme, seine ganze wuchtige Präsenz, das schien schon mehr zu sein, als sie vertragen konnte.
    Das Klopfen an der Tür nahm sie erst wahr, als er sich von ihr löste. »Ist das Henon?«, fragte er.
    »Bestimmt.«
    Anschar ging zur Tür. Dort brauchte er einen Moment, bis er auf den Gedanken kam, den Riegel zurückzuschieben und sie aufzuziehen. Dann wurde er starr. Grazia sah Henon, sah, wie seine Augen sich weiteten, er eine Hand vor den Mund presste und vorwärts stolperte. Anschar fing ihn auf, aber er war selbst nicht mehr Herr der Lage und sackte auf die Knie. Er drückte den alten Mann an sich. Henon umklammerte ihn und fing an zu weinen. Ob auch Anschar die Tränen kamen, konnte Grazia nicht sehen, denn er hatte das Gesicht in Henons Halsbeuge vergraben. Seine Schultern indes zitterten verräterisch. Ihr war es unangenehm, den Gefühlsausbrüchen dieser beiden Männer zuzusehen, also
ging sie auf die Terrasse, setzte sich auf die Bank und wartete. Sie freute sich über das Wiedersehen, spürte aber auch den Schmerz des Abschieds, der schon darin lag. Sicherlich war in den nächsten Tagen wieder viel Zeit und Geduld nötig, um Henon zu trösten.
    Und tatsächlich hörte sie ihn die unvermeidliche Frage stellen, was morgen sein würde.
    »Das weißt du doch«, sagte Anschar. »Morgen bin ich wieder in Heria.«
    »Ja, ja, ich weiß!« Henon schluchzte auf. »Bei der Dreiheit, es tut so gut, dich hier zu haben. Aber du siehst schlecht aus, man sieht dir an, wo du warst. Man hat dich jedoch nicht gebrochen. Nein, hat man nicht, nein, nein.«
    »Nein«, bestätigte Anschar. »Wie es allerdings gewesen wäre, hätte ich in den Werkstätten so wie du ein halbes Jahr zubringen müssen …«
    Wieder japste Henon, aber diesmal so laut, dass Grazia den Grund wissen wollte.
    Sie stand auf. Die beiden hockten nebeneinander auf dem Boden. Henon hielt Anschars rechte Hand vor sich und betrachtete sie wie eine Buchseite.
    »Warum nur? Warum?«, jammerte er. »Ach, was tut man dir nur an?« Er drückte Anschars Hand an sein Gesicht und weinte hinein, während Anschar seine Schulter umfasst hielt. Grazia ging zu ihnen und wartete. Sie wollte nicht stören, aber Henons Geste erinnerte sie an jenen Tag im Tempel, als Anschar seine Hand hatte vorzeigen müssen. Jetzt kam ihr dieser kleine Vorfall wieder in den Sinn.
    Als Anschar sie bemerkte, entzog er Henon die Hand und streckte sie vor. Der halbe Handteller war von einem scheußlichen Narbengeflecht überzogen. Die vier Zeichen des Meya – fort, ausgebrannt. Ausgebrannt! Ihr wurde übel, und sie sank neben ihn.

    »Du kannst dort nicht zurück«, hauchte sie. »Du kannst nicht zu dem Menschen gehen, der dir das angetan hat.«
    »Ich kann, und ich muss. Dies hier ist das Zeichen, dass ich ihm gehöre. Es ist hässlicher als das des Meya, aber es ist seins. Und das will ich auch nie vergessen.«

    Anschar nahm eine der mit winzigen Vögeln gefüllten Teigrollen und biss mit einem glücklichen Aufstöhnen hinein. Gleich darauf hatte er die Hälfte verschlungen. »Henon, bring mir Wein.«
    Der alte Sklave wollte aufstehen, doch Grazia legte rasch eine Hand auf seinen Arm und ging selbst zu dem Tischchen mit den Tonkrügen. Sie öffnete einen, trat zu Anschar und füllte seinen Becher, danach Henons und zuletzt ihren eigenen.
    »Warum tust du das?«, fragte Anschar, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.
    »Weil er alt ist.«
    »Bist du wirklich so alt geworden?«, rief er über den Tisch, sodass Henon zusammenzuckte.
    »Herr, ich füge mich ihr nur. Wie du es gewünscht hast.«
    Achselzuckend stützte Anschar den Ellbogen auf den Tisch und trank den Becher in einem Zug leer. Seine Tischmanieren waren nicht schlechter als bei den Argaden üblich, was nicht hieß, dass sie gut waren. Grazia würde sich hüten, ihn verbessern zu wollen. Aber es musste nicht sein, dass er sich von einem alten Mann, der ihm wie ein Vater war, bedienen ließ.
    Anschar vertilgte ein Teigröllchen nach dem anderen. Wenn die gerösteten Vogelfüßchen zwischen seinen Zähnen knackten, verzog Grazia das Gesicht. Es entging ihm nicht, denn wenn er sie ansah, ließ er die Füße besonders laut knacken. Plötzlich kniff er die Augen zusammen und drückte

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