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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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erschrocken die Hand auf die Brust presste. »Hast du je solche Laute gehört?«
    »Nein.«
    »Wir haben sie geweckt.«
    »Es scheint so.« Oder träumte die Fremde noch? Sie hatte grüne Augen, eine Farbe, die so fremd war wie ihr rotes lockiges Haar.

    »Ogottogott«, flüsterte Grazia. Der Albtraum wollte und wollte kein Ende nehmen. Dieser halb nackte Mann, der sich über sie beugte und entsetzlich stank, war doch ebenso wenig
wirklich wie der auf dem Steg. Jedoch hatte sie noch nie von Gerüchen geträumt. Er schien geradezu in Schweiß zu schwimmen. Dunkelbraune Haare hingen in verschwitzten Strähnen an ihm herunter. Fast berührten sie ihr Gesicht. Sie versuchte seinem durchdringenden Blick auszuweichen und zog sich die Decke über das Gesicht. Was war das für eine Decke? Der Stoff fühlte sich rau an und verströmte ebenfalls einen strengen Geruch. Außerdem kratzte er auf der Haut. Grazia hielt erschrocken die Luft an, als ihr bewusst wurde, dass sie nur noch ihr Unterkleid und darüber das Korsett trug. Fast nackt und schutzlos, befand sie sich in einem Raum mit wildfremden Leuten.
    War sie vielleicht in einem Krankenhaus? Vorsichtig schob sie die Decke bis zur Nase zurück. Der Mann war aufgestanden und hatte sich einer Frau zugewandt. Jetzt sah Grazia, dass seine Hände im Rücken gebunden waren. Womöglich war sie doch in einer Irrenanstalt gelandet, wo man die Verrückten fesseln musste. Ihre Geschichte klang ja auch verrückt genug! Aber das hier sah eher aus wie ein Zelt, und diese Leute wirkten selbst wie aus einer Geschichte entsprungen. Die Frau trug ein einfach geschnittenes und bunt besticktes Gewand, das sie wie eine Decke umflatterte, während sie auf Grazia deutete. Aufgenähte Muscheln klapperten an den Säumen. Der Mann sagte ein unverständliches Wort und schüttelte den Kopf. Ein Wortwechsel folgte, der feindselig klang, schließlich ging die Frau zu einem Korb, hob den Deckel und zog einen schwarzen Strumpf heraus.
    Grazia glaubte wieder in Ohnmacht zu fallen. Wie konnte diese Frau ein so heikles Kleidungsstück einfach herzeigen, als sei es ein Küchentuch? Noch dazu einem Mann ? Als Nächstes wurde der Inhalt ihrer Handtasche herausgeschüttelt. Tatsächlich, da lagen ihr Theodor Fontane, Justus’ Taschenuhr und ihre Geldbörse. Die Frau bedeutete dem Gefesselten,
sich alles anzusehen. Er beugte sich darüber, schüttelte aber nur den Kopf.
    »Das sind meine Sachen«, krächzte Grazia, setzte sich auf und wiederholte, diesmal lauter: »Die gehören mir!«
    Die Frau neigte den Kopf, als höre sie genau zu. Dann stopfte sie alles mit spitzen Fingern zurück in den Korb und trug ihn zu ihr. Dicht neben ihrem Lager stellte sie ihn ab und machte eine Geste, als wolle sie zeigen, dass sie nicht vorhatte, ihr die Sachen streitig zu machen. Sie rief etwas, worauf zwei Männer ins Zelt kamen und den Gefesselten hinausführten. Im Hinausgehen blickte er über die Schulter und sagte etwas, von dem Grazia den Eindruck hatte, dass es ihr galt. Es hatte aufmunternd geklungen, als sähe er in ihr eine Leidensgenossin. Sowie er draußen war, atmete die Frau tief aus. Ob er gefährlich war?
    Bei was für Leuten bin ich hier bloß?, fragte sich Grazia.
    Die Frau kehrte zu ihr zurück und kauerte an ihrer Seite. »Tuhrod«, sagte sie, legte die Hand auf die Brust und streckte sie in einer fragenden Geste aus. Ob sie so hieß?
    Grazia nannte ihren Namen.
    »Frauleinsim…?«, wiederholte die Frau stirnrunzelnd.
    »Fräulein Zimmermann. Grazia Zimmermann.«
    Tuhrod spitzte die Lippen und versuchte es erneut, aber sie wirkte ungeduldig. Schließlich legte sie die Hände auf das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf, bedeutete ihr, sich auszuruhen, und verließ das Zelt.
    Ausruhen? Wie sollte das denn gehen? Zuerst musste Grazia in Erfahrung bringen, was geschehen war. Sie war beinahe in der Havel ertrunken, vielleicht ein Stück abgetrieben und irgendwie, ohne es zu wissen, herausgefischt und in eine Art Nomadenzelt gebracht worden. Vielleicht gehörte es ja einem Zirkus, so durchdringend, wie es nach Stall roch. Dies war jedenfalls die einzige Erklärung, die ihr zu alldem einfiel.
Möglich, dass der nackte Mann auf dem Steg zu diesen Leuten gehört hatte.
    Was würde Friedrich zu all dem sagen? Ihre Mutter? Wussten sie überhaupt davon? Wahrscheinlich nicht. Mit Glück – mit viel Glück – konnte sie noch das Schlimmste verhindern, indem sie sich jetzt anzog und schnell nach Hause

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