Das gläserne Tor
Halt, aber sein Hals war gestreckt. Nur mühsam konnte er noch atmen. Jetzt war er der Bestie hilflos ausgeliefert. Er hörte, wie ihre Krallen über den Fels kratzten, hörte sie fauchen und schnaufen. Dann sprang sie auf der anderen Seite hinunter. Anschar wappnete sich gegen den tödlichen Schlag gegen seinen Rücken, sobald sie den Felsen umrundet hatte. Kalter Schweiß brach aus all seinen Poren, rann zwischen den Schulterblättern hinab und machte die Felskanten schlüpfrig. Nichts geschah. Stille kehrte ein. Über die Schulter konnte er nicht blicken, ohne sich vollends zu erwürgen, also wartete er ab. Es schien, als sei der Schamindar fort.
Seine Glieder begannen zu zittern, und das nicht nur wegen seines erkaltenden Schweißes. Lange konnte er sich nicht mehr halten. Der Schmerz in der Schulter hingegen störte nicht weiter – nicht in dieser misslichen Lage. Vorsichtig ertastete er die Felswand und versuchte hinaufzuklettern, aber alles, was ihm gelang, war, das Band zu lockern. Er hob einen Arm und schlang es um sein Handgelenk. Es würde vielleicht verhindern, dass er sich erwürgte, wenn er abrutschte. Wozu diese Bemühungen noch gut sein sollten, wusste er allerdings nicht.
Die Bestie kehrte nicht zurück. In quälender Langsamkeit schleppte sich die Nacht dahin. Die Hand wurde allmählich taub. Mit der Linken umklammerte er ein trauriges Grasbüschel, das ihn niemals halten würde. Irgendwann spürte er seinen Körper nicht mehr, aber noch atmete er, noch war er nicht gefallen.
»Schamindar, wo steckst du?«, flüsterte er gegen den Fels. Hatte er nicht eben Schritte hinter sich gehört? »Ja, komm her. Mach dem ein Ende.«
»So schnell stirbt sich’s nicht«, sagte jemand. »Nicht einmal hier.« Er erschrak, so dicht war die Stimme hinter ihm. Mit dem Fuß trat er nach hinten aus. Fast hätte es ihn den Halt gekostet. Wer immer es war, den er getroffen hatte, stöhnte vor Schmerz auf.
»Der will wohl gar nicht befreit werden«, sagte ein anderer. »Sollen wir ihn hängen lassen?«
»Jernamach hat gesagt, wir sollen ihn holen. Also holen wir ihn, und zwar schnell, bevor das Biest sich doch wieder blicken lässt. Ich habe keine Lust, als Futtergabe zu enden. Und du, Fremder, halt still. Wir wollen dir ja nur helfen.«
Eine Schulter schob sich zwischen seine Beine und stützte ihn. Kurz darauf löste sich das Band. Anschar zerrte seine Hand aus der Schlinge und sprang hinab.
»Wer seid ihr?« Viel war nicht zu erkennen, nur zwei Schemen vor dem Felsblock. »Der Name, den ihr genannt habt, hörte sich verdächtig nach der einer Wüstenratte an.«
»Wüstenratte? Was willst du damit sagen? Dass du ein Herschede bist?«
Anschar rieb sich den geschundenen Hals. »Ich bin Argade.«
»Leise!«, zischte der andere. »Wir wissen nicht, ob sich die Herscheden am Waldrand aufhalten, um nachher, wenn es hell wird, deinen Tod zu überprüfen. Also verschwindet! Ich kümmere mich um den Rest.«
Anschar erhielt die Anweisung, dicht hinter dem Mann zu bleiben, der ihn in den Wald führte. Hinarsyas Mond war längst hinter dem Hyregor verschwunden, so konnten sie ungesehen über den Abhang laufen. Es war ihm fast gleichgültig, was hier vor sich ging und warum. Er war sich nicht einmal sicher, ob er nicht in Wahrheit noch am Felsen hing und er sich diese unerwartete Wendung seines Schicksals nur vorgaukelte. Im Wald fühlte er sich an der Hand gepackt. Gefügig stapfte er hinter seinem Retter her. Wurzeln, Nadeln und harte Gräser peinigten seine Fußsohlen, Äste scheuerten über seine Haut. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen, dennoch bewegte sich sein Begleiter sicher, wenn auch langsam. Schließlich kamen sie auf eine Lichtung, wo es um eine Winzigkeit heller war. Anschar erkannte die Umrisse eines knotigen Baumes mit niedrigen Ästen.
»Hier bleibst du und wartest«, erklärte der Mann. »Halt still, ich schneide dir das Band ab. Ich bin übrigens Tenam. Wie ist dein Name?«
»Ihr habt mich gerettet und wisst nicht, wer ich bin?«
»Nein. Woher sollen wir das wissen? Hier«, der Mann drückte ihm ein Bündel in die Hand. »Zieh dir das an. Und dann hinauf mit dir. Im Baum bist du vor der Bestie sicher.
Ich gehe zurück und helfe Jalam, die Opferstätte so zu hinterlassen, dass niemand erkennt, was geschah.«
Anschar warf sich das wollene Hemd über, nichts weiter als zwei an den Schultern miteinander vernähte Vierecke. Er wickelte das Grasband um seine Mitte. Tenam war bereits
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