Das gläserne Tor
du?«
»Mein Zuhause?«, wiederholte Anschar. Empört wollte er das von sich weisen, aber ihm dämmerte, dass es gar nicht so
verrückt war, wie es sich anhörte. Wo sollte er hin? Jernamach hatte recht, sein früheres Leben gab es nicht mehr. »Ich heiße Anschar«, presste er unwillig hervor.
»Anschar«, wiederholten die Männer, nur Parrad schwieg verbissen. Der Name schien den Wüstenmännern nichts zu sagen. Auch seine Tätowierung rief kein Echo hervor. Er nahm den Schlauch entgegen und setzte ihn an die Lippen. Es war Bier, allerdings kein gutes. Er ließ sich Zeit, um über das Gehörte nachzudenken. Zu schnell waren die Veränderungen auf ihn eingestürzt. Vor wenigen Stunden hatte er mit seinem Leben abgeschlossen. Plötzlich gehörte er einer Bande entlaufener Sklaven an. Wüstenmännern.
»Ich weiß immer noch nicht, ob ich das alles glauben soll«, sagte er düster. »Bis eben noch hielt ich mich für tot. Ich sollte wohl dankbar sein. Aber es fühlt sich an, als hätte mich jemand zurück in die Werkstätten versetzt und wieder an ihn gebunden.« Er nickte in Parrads Richtung.
»Oh, so fühlt es sich nicht an.« Jernamach lächelte. »Du musst kein Gras treten, und wenn du allein sein willst, brauchst du nur ein paar Schritte in den Wald zu gehen.« Mit einer Handbewegung forderte er ihn auf, den Schlauch an seinen Sitznachbarn weiterzureichen. »Dieses Leben ist dem Tod durchaus vorzuziehen. Wir müssen uns auch erst daran gewöhnen, einen Argaden unter uns zu haben. Du wirst im Dorf für Aufsehen sorgen.«
»Dieses Dorf … Wo, bei Inar, ist hier ein Dorf? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Es wäre auch schlimm, wenn es anders wäre. Es ist verborgen, so wie unser gesamtes Leben hier im Verborgenen abläuft. Sieh mich an: Ich arbeitete noch vor ein paar Jahren auf einem herschedischen Landgut ganz in der Nähe des Waldes. Ich war zwar alt, aber zäh. Bis ich mir ein Bein brach und dauernd kränkelte. Seither fürchtete ich um mein Leben.
Ja, ich weiß, das herschedische Gesetz sagt, dass Sklaven, wenn sie alt und nutzlos geworden sind, gut behandelt werden müssen, aber das kümmerte meinen Herrn nicht. Eines Tages ging ich einfach weg. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ungesehen entkommen konnte. Und was ich mir eigentlich in den Wäldern erhoffte. Aber ich wurde gefunden und ins Dorf gebracht. Seither lebe ich hier.«
Allmächtige Götter, dachte Anschar. Es gab tatsächlich so etwas wie eine Siedlung ehemaliger Sklaven, von der die Welt nichts wusste? Und das seit Jahren? Der Reihe nach musterte er die Männer. Sie brummten zustimmend, nur Parrad hielt an seiner verdrossenen Miene fest.
»Andere, wie Parrad, hätten der Bestie geopfert werden sollen«, fuhr Jernamach fort. »Jeder der derzeit hundertunddrei Menschen des Dorfes hat seine eigene Geschichte.«
»Ich hatte geglaubt, ich sei das erste und einzige Opfer.«
»Nein. Du bist das fünfte. Das heißt, das fünfte, das wir gerettet haben. Ab und zu lassen wir auch eines sterben, sonst fällt es irgendwann auf. Außerdem bekommen wir nicht immer mit, wann ein neues gebracht wird.« Jernamach ließ sich auf einen Ellbogen hinab und suchte auf dem unregelmäßigen Bretterboden eine bequemere Haltung. »Es fing vor etwa zwei Monaten an. Einer unserer Leute entdeckte bei der Jagd, dass in den Felsen ein Kupferhaken eingeschlagen worden war. Wir rätselten, was es damit auf sich haben könnte, und kehrten einige Tage danach zu dem Felsen zurück. Da war getrocknetes Blut. Eine zerfetzte Grasleine. Etwa zu der Zeit beobachteten wir zum ersten Mal die Bestie, die dein Volk den Schamindar nennt. Natürlich kennen wir die Legenden – dass er durch die Wälder streift und mehr Beute reißt, als er fressen kann, aus Zorn darüber, nicht bei seinem Herrn zu sein, dem letzten Gott. Immer wieder schickte ich die mutigsten Männer aus, um nachzusehen, was sich bei
dem Felsen tat. Und wahrhaftig fanden sie bald darauf einen Sklaven, der dort angebunden war, so wie du. Dann einen zweiten. Dann wieder frische Blutspuren. Einmal mussten sie mit ansehen, wie der Schamindar das Opfer verschlang. Ein anderes Mal ließen sie eines zurück, weil sie den Verdacht hegten, nicht unbemerkt an den Felsen heranzukommen. Wir vermuten, dass in diesen Monaten etwa so viele starben, wie wir befreien konnten. Aber warum, das wissen wir nicht.«
»Ich weiß es«, erwiderte Anschar.
»Du weißt es?« Jernamach setzte sich wieder auf. Die anderen Männer beugten
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