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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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verschwunden, also stieg er in den Baum und hocke sich auf einen dicken Ast. Ob er glauben sollte, was da geschehen war, wusste er noch nicht, und je länger die beiden Männer fortblieben, desto mehr wähnte er sich im Vorraum der Unterwelt, wo eine ebenso undurchdringliche Dunkelheit herrschte und jeden Augenblick ein fahles Licht erscheinen würde, das ihn vor Hinarsya in ihrer Gestalt als Totenrichterin führte. Aber dann besäße er keinen Körper mehr. Die Schmerzen in seiner Schulter und der Schweißgestank, den er verströmte, wären verschwunden. Trotz seiner Verwirrung übermannte ihn die Müdigkeit. Er lehnte sich gegen den Stamm, verschwendete nur einen kurzen Gedanken daran, vielleicht im Schlaf herunterzufallen, und schloss die Augen.

4

    A ls sie zurückkehrten und ihn weckten, herrschte immer noch tiefste Nacht. Dennoch brachen sie sofort auf. Anschar schluckte sämtliche Fragen herunter, um sich auf seine Schritte zu konzentrieren. Nach vielleicht zwei Stunden musste er wieder in einen Baum steigen; diesmal jedoch stieß er in der Krone auf eine Behausung. Tenam, der vor ihm hinaufgeklettert war, schlug eine Decke zurück, die den Eingang
verhängte. Dahinter war ein kleiner Raum zu erkennen, von einem Öllämpchen schwach erhellt.
    »Wir haben ihn«, hörte Anschar ihn sagen. »Es gab keine Schwierigkeiten.«
    »Gut gemacht. Lass ihn herein. Und ihr macht euch auf ins Dorf.«
    »Nichts lieber als das.« Tenam schlug Anschar auf die schmerzende Schulter und schob sich an ihm vorbei, um wieder nach unten zu steigen. Anschar wollte sich aufrichten, aber die Hütte reichte ihm kaum bis zu den Schultern, also kroch er hinein. Vier Männer hockten hier, allesamt schwarzbärtig und mit dem unverkennbaren Hautton der Wüstenmenschen. Bei seinem Erscheinen runzelten sie die Stirn und warfen sich verwunderte Blicke zu.
    »Er ist kein Wüstenmann.«
    »Dessen ungeachtet teilt er unser Schicksal.«
    Einer der Männer sorgte mit erhobener Hand für Stille und wandte sich ihm zu. Es war ein Greis, mit kahlem Haupt, von dem einzelne weiße Strähnen abstanden, und vielfach gerunzelter Haut. »Willkommen. Ich bin Jernamach. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Tenam und Jalam uns einen Einheimischen bringen. Du bist ein Argade, oder?«
    »O ja, das ist er! Und ein Verräter dazu!«
    Ein Mann sprang mit vorgestreckten Händen vor. Anschar packte seine Handgelenke und stieß ihm das Knie gegen die Rippen. Nach der Anstrengung der letzten Tage kam er sich behäbig vor, gleichwohl japste der Angreifer, krümmte sich und wich zurück. Mit hilflos geballten Fäusten starrte er ihn voller Wut an.
    »Was soll das, Parrad?«, schimpfte Jernamach, der die Lampe an sich genommen hatte und schützend die Hand vor die Flamme hielt. »Bist du von Sinnen?«
    »Er war mit mir in den Papierwerkstätten«, antwortete
der Mann, mit dem Anschar drei Monate lang auf Gedeih und Verderb verbunden gewesen war. »Er hatte mich verraten. Und ausgerechnet er wurde jetzt gerettet? Welch ein Hohn.«
    »Ist das wahr?«, fragte Jernamach, an Anschar gewandt.
    »Es stimmt, dass ich mit ihm in den Werkstätten war. Den Rest träumt er sich gerade zusammen.«
    »Ich habe geträumt, dass du meine Flucht verhindert hast?« Parrad streckte den Rücken. Seine Halssehnen traten hervor, die Nasenflügel bebten. Er hob eine Faust, wagte aber nicht zuzuschlagen.
    Erneut packte Anschar sein Handgelenk. »Was hast du dich auch so dumm angestellt?«, schnaubte er. »Gib nicht mir für deine Kopflosigkeit die Schuld. Erkläre mir lieber, wie du deinen Hals gerettet hast.«
    »Auf dieselbe Art wie du«, antwortete Jernamach an Parrads statt.
    »Was?« Anschar ließ Parrad los. »Du willst damit sagen, auch er hätte geopfert werden sollen? Aber was …«
    Jernamach unterbrach ihn, indem er eine Hand hob. Dann griff er hinter sich und förderte einen Lederbalg zutage. Bedächtig wickelte er die Schnur von der Öffnung und reichte ihn Anschar. »Trink erst einmal, du musst Durst haben. Deinem Hunger werden wir morgen früh abhelfen, wenn wir zurück in unserem Dorf sind. Was im Übrigen dein Zuhause sein wird, denn du bist ein zum Tode verurteilter Sklave.« Mit diesen Worten fasste er sich an ein Ohrläppchen. Deutlich war das Loch zu erkennen, doch der Haken, der ihn zu irgendeiner früheren Zeit als Sklave ausgewiesen hatte, fehlte. »Der Schamindar hätte dich fressen sollen. Du existierst eigentlich nicht mehr. Nur noch hier in den Wäldern. Wie heißt

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