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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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auf die seine zu legen. Er ließ es geschehen. Grazia setzte sich an den Tisch, schob den Koffer beiseite und sah ihn eindringlich an. »Herr, ich weiß, woher der Schmuck stammt. Henon, der alte Sklave, hat es mir erzählt.«
    »Henon? Jetzt sag nicht, du redest von dieser Geschichte, die du mir bereits aufzutischen versucht hast.«
    »Doch, davon rede ich. Henon hat die Wahrheit gesprochen.«
    »Hatte ich dir nicht klargemacht, dass ich solchen Unsinn nicht hören will?«, blaffte er sie an.
    »Ja, das hattest du.« Sie deutete auf den Schmuck. »Aber sieh ihn dir noch einmal an und hör mir bitte endlich zu!«
    Wutschnaubend riss er seine Hand zurück und verschränkte die Arme, doch er schwieg.
    »Henon kannte die Wahrheit«, redete sie schnell weiter. »Vor etlichen Jahren – etwa so viele, wie Anschar alt ist – kam eine Sklavin zu dir und erzählte dir dieselbe Geschichte.«
    »Das muss aber recht lange her sein«, spottete er. »Und daran soll ich mich erinnern?«
    »Sie erzählte dir, dass sie unrechtmäßig von Sklavenjägern eingefangen worden war.«
    »Ja, solche Behauptungen sind mir schon oft zu Ohren gekommen.«

    Grazia ließ sich nicht beirren. »Sie erzählte dir aber noch etwas anderes. Etwas, das du weder vorher noch nachher je wieder gehört hast. Nämlich dass sie aus dem Land Temenon stammt und hergeschickt wurde, um den Streit beizulegen, der zwischen euren Völkern seit Hunderten von Jahren herrscht.«
    Madyurs Augen blitzten flüchtig auf. Er erinnerte sich. Aber sie spürte, wie er sich dagegen sperrte.
    »Ihr Name war Siraia«, redete sie weiter. »Eine Gesandte aus Temenon. Den Schmuck hat sie dir nicht gezeigt, nicht wahr?«
    »Nein.« Er musste sich räuspern. »Nein, ich … sie … ich erinnere mich. Da war eine Frau. Es ist wirklich lange her. Ich verließ die Banketthalle, und da kam sie aus irgendeiner Ecke auf mich zugelaufen und warf sich vor mir auf die Knie. Eine Frau in einem Sklavenkittel. Wie hätte sie mir den Schmuck zeigen sollen? Er wäre ihr sofort weggenommen worden. Ich verstehe ohnehin nicht, wie sie ihn hat verstecken können. Wie, hast du gesagt, war ihr Name?«
    »Siraia.«
    Er nahm das Diadem wieder an sich und zog eine Perle nach der anderen durch die Finger. »Wir sollten morgen darüber sprechen«, sagte er kehlig. »Ich bin müde.«
    »Erzähl weiter«, drängte Grazia ihn, und er nickte langsam.
    »Nun gut. Du bist ohnedies viel zu hartnäckig, als dass ich mich dagegen wehren könnte. Ich blieb stehen und hörte sie an … ich weiß nicht mehr genau … ja, ich erinnere mich an ihre Worte. Aber sie drangen nicht richtig zu mir durch. Wie hätte ich so etwas Abwegiges auch glauben sollen? Viele Sklaven versuchen ihre Lage zu verbessern, indem sie sich mit dreisten Behauptungen aufwerten. Sie seien Herrscher und reiche Männer in ihren Sippen – ständig hört man so etwas.
An jener Geschichte verwunderte mich allerdings, woher eine frisch eingefangene Wüstenfrau von Temenon und dem Fluch der Götter wusste. Ja, das weiß ich noch. Trotzdem gab ich nichts darauf und vergaß es. Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Jedenfalls erinnere ich mich an keine weitere Begegnung.«
    »Glaubst du ihr jetzt?«
    »Ihr glauben? Wo ist sie? Ich will sie anhören.«
    »Sie ist seit vielen Jahren tot.«
    Er legte das Diadem zurück. »Ich nehme an, aus deinem Land stammt der Schmuck nicht.«
    »Er ist aus Temenon. Du musst es glauben.«
    Madyur drehte sich zu Fidya um. »Gelbköpfchen! Muss ich es?«
    Sie zuckte die Achseln. Blass war sie, kurzatmig. Ihre Hände stützten den Bauch. Sie begriff ebenso langsam wie er. Aber sie begriff, Grazia sah es ihr an.
    »Ich fürchte, ich muss«, sagte er. »Temenon. Große Götter. Große Götter! Jahrhundertelang haben Temenon und Argad versucht, zueinanderzukommen, um den Streit beizulegen, und Temenon war es gelungen? Ich hätte nichts weiter tun müssen, als Siraia zu glauben? Ihre Hand zu ergreifen?« Er erhob sich und ging mit elend schweren Schritten hinaus auf die Terrasse. Grazia wechselte besorgte Blicke mit Bruder Benedikt, aber er beruhigte sie, indem er einen Finger auf den Mund legte. Für Madyur war es an der Zeit, das Gehörte sich setzen zu lassen. Es war eine bittere Erkenntnis, die nicht leicht zu schlucken war. Lange Minuten geschah nichts. Fidya war auf Madyurs Stuhl gesunken. Bruder Benedikts Lippen bewegten sich wie im Gebet, während Grazia an einem Daumennagel kaute. Hatte sie alles richtig gemacht?
    Ein

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