Das gläserne Tor
erstickter Schrei ertönte auf der Terrasse. »Ihr Götter! Nein! Warum? Warum nur? Es lag in meiner Hand, den Fluch
abzuwenden. Und ich habe es nicht begriffen. Ich habe es nicht begriffen!«
Ein zweiter Schrei ließ fast die Wände erzittern. Madyur kam hereingestürzt. Fidya flog ihm entgegen und versuchte ihn zu beruhigen. »Schscht, mein Meya«, sagte sie leise. »Noch ist ja nichts verloren.«
»Ist es nicht?« Er zog sie an sich und bettete den Kopf auf ihrer Schulter. »Ach, mein unbedarftes Gelbköpfchen, was verstehst du davon? Ich hatte es in der Hand, den Fluch abzuwenden, und habe es nicht gewusst. Was bleibt mir jetzt? Alle meine Maßnahmen, alle Gebete und Opfer haben nichts bewirkt. Der Suchtrupp, den ich aussandte, konnte den Gott nicht finden. Nichts hat gefruchtet, nichts.«
Plötzlich richtete er sich mit einem Ruck auf und schob sie beiseite. Es schien, als werfe er von einer Sekunde auf die andere die Schwäche ab. »Dich hatte ich auch überschätzt, Grazia Zimmermann. Ich dachte, mit deiner Gabe ließe sich das Ende eine Zeit lang aufhalten, aber du bist kein Ersatz für den Gott. Nur er könnte uns helfen, aber er sitzt wohl immer noch in seinem Wüstengefängnis. Bisher kehrte von den vier Suchtrupps nur Anschar zurück. Ich könnte weitere aussenden, gewiss. Aber die würden ebenso im Sand verrotten, wie wohl die anderen auch. Inar und Hinarsya haben ihren Sohn ja nicht umsonst in die tiefste Wüste verbannt. Sie wollen nicht, dass wir ihn finden. So ist die Lage. Ich sehe nirgends einen Ausweg.«
»Wirklich nicht?«, fragte Grazia vorsichtig. »Was ist mit Anschar?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Er ist Siraias Sohn. Mach an ihm gut, was du bei ihr versäumt hast. Vielleicht bewirkt das ja irgendetwas. Jetzt, wo du weißt, wer er ist, musst du ihm endlich helfen!« Sie spürte, wie sie mit diesem Tonfall dünnes Eis betrat, aber das war ihr
gleichgültig. »Du musst deinem Bruder befehlen, ihn gehen zu lassen. Er hat ihn vor vier Monaten gefangen genommen, und ich will mir nicht ausmalen, was er seitdem mit ihm alles getan hat.«
»Mit welchem Recht könnte ich Mallayur einen solchen Befehl erteilen?«, erwiderte er barsch. »Er ist der rechtmäßige Besitzer, die Herkunft eines Sklaven ändert daran nicht das Geringste. Aber jedes Wort zu dieser Sache ist zu viel. Anschar ist tot. Mallayur hat ihn hingerichtet. Vor vier Monaten, irgendwo in den Wäldern des Hyregor.«
Das darf nicht wahr sein!, wollte Grazia schreien, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, bis sie keine Luft mehr bekam. Tot, tot, tot. Das Wort wollte sich in ihr Hirn hämmern, schmerzhaft, gewaltig, endgültig. Bruder Benedikt saß mit einem Mal neben ihr. Sie krampfte die Finger in seinen Habit und drückte das Gesicht gegen den Stoff. »Nein …«, würgte sie hervor. Jetzt war sie es, die schrie. War das ihre Stimme? Es hörte sich so unmenschlich an. Das war nicht sie, und was sie gehört hatte, betraf nicht Anschar. Unfassbar. Unfassbar! So viel Unglück konnte es nicht geben. Hinter sich hörte sie Stühlerücken und Flüstern. Der Meya ging. Er ließ sie mit seiner ungeheuerlichen Behauptung allein. »Das ist nicht wahr«, heulte sie, aber wahrscheinlich hörte er sie nicht mehr.
Ihr Herz fühlte sich an wie zersprungenes Glas. Kalt, mit scharfen Kanten, die ihr Inneres zerschnitten, wenn sie sich nur bewegte. Sie stand auf der Terrasse ihrer Wohnung – seiner Wohnung. Die Sonne ging auf und übergoss die Flachdächer Herias mit sanftem Rot. Friedlich lag die herschedische Hauptstadt unter ihr. Da war Mallayurs Palast, da war der Platz davor, den sie in der Nacht mit Bruder Benedikt überquert hatte. Das Palasttor wurde soeben für den Tag
geöffnet. Der Weinhändler scheuchte seine Sklaven umher, Frauen mit Körben auf den Köpfen schritten über den Platz. Wie oft hatte Grazia dies alles beobachtet? Wie oft hatte sie hier gestanden und sich gefragt, wie es Anschar dort drüben erging? Sich erhofft, ihn irgendwo an den Fenstern oder auf der Freitreppe hinter den Palastmauern zu sehen? Nie war es geschehen. Es würde nie mehr geschehen.
Sie kehrte in die Wohnung zurück. Warum hatte sie sich nicht dagegen gewehrt, in seinen Gemächern einquartiert zu werden? Alles hier erinnerte an ihn, mehr noch als der Ausblick dort draußen. Die Fresken mit dem Schamindar. Der Vorhang vor dem Bad, den sie hatte anbringen lassen. Alles war wie zuvor, niemand hatte offenbar seither hier gewohnt. Grazia betrat
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