Das gläserne Tor
sie Grazia betrachteten. Die Blicke waren nicht ganz so abweisend wie am Tag zuvor. Ob es daran lag, dass sie als Anschars Gefährtin galt?
Sie setzte sich neben ihn auf den gefällten Baumstamm. Eine Frau brachte ihnen Schalen mit Graswurzelbrei und harte Brotfladen, die als Löffel dienten. Eine andere kam mit einem Krug, aus dem es erdig roch; es sollte wohl Bier sein. Grazia ließ die Finger davon. Anschar trank, aber zu schmecken schien es ihm auch nicht.
»Sag, bist du der Anführer dieser Menschen?«, fragte sie leise.
»Nein, das ist Jernamach, der Alte. Aber sie hören auf mich. Es ist ein Zweckbündnis – sie lieben mich nicht, und ich verachte sie.«
»Du verachtest sie? Auch die, mit denen du unterwegs warst?«
Er hob die Schultern. »Es sind Wüstenmänner.«
Die beiden kamen, in dicke Gewänder gehüllt, auf die Lichtung. Sogleich gingen sie zur Kochstelle und ließen sich Schalen mit Brei geben. Anschar winkte sie herbei. Sie gehorchten sofort. Die Begrüßung fiel spärlich aus. Sie schienen nicht recht zu wissen, wie sie sich heute der Frau gegenüber verhalten sollten, die sie gestern entführt hatten.
»Ihr wisst, was wir zu tun haben«, fing er an. Sie nickten.
»Wann?«, fragte der Mann namens Parrad.
»Sofort.«
»Gut.« Parrad drückte die Hand auf den Bauch. »Lass
mich nur in Ruhe im Gebüsch hocken. Ich glaube, der Wein in dieser Schenke war, ähm, ungewohnt.«
Anschar nickte, und sie entfernten sich ein Stück, um im Stehen das Frühstück herunterzuschlingen und sich anschließend mit einem kupfernen Schaufelblatt in die Büsche zu schlagen.
»Was habt ihr denn zu tun?«, fragte Grazia, der mit einem Mal ganz beklommen zumute war. Nichts, was ein Mann hier tun musste, war harmlos.
»Wir müssen nachholen, was gestern hätte getan werden sollen. Du hast ja mitbekommen, dass wir eigentlich unterwegs waren, um ein paar Sachen zu besorgen. Das ist leider gründlich misslungen.«
»Meinetwegen?«
»Nein, es gab Schwierigkeiten im Dorf, in dem wir uns aufhielten, dabei habe ich mein Geld verloren. Ich habe noch Geld, also werde ich mich nachher aufmachen und meine Einkäufe tätigen.«
»Anschar!« Sie stellte die Schale auf der Baumrinde ab und wandte sich ihm zu. »Da draußen sind sicherlich die Argaden unterwegs, um mich zu suchen. Ist es nicht viel zu gefährlich, jetzt noch einmal loszuziehen?«
»Es sollte dich nicht beunruhigen. Das Dorf liegt in westlicher Richtung; falls sie sich wirklich die Mühe machen, so weit zu laufen, werden sie es morgen erst erreichen. Daher bleibt uns nur der heutige Tag. Ich hole, was ich bekommen kann, und danach ist es wirklich das Beste, ein paar Tage die Nase nicht aus dem Wald zu stecken. In den Wald werden sie nicht vordringen, denn da wüssten sie ja kaum, wo sie mit der Suche anfangen sollen. Und sonst gibt es nicht viele Möglichkeiten. Ist Benedik eigentlich mit dir gereist? Im Lager schien er nicht zu sein, allerdings habe ich nicht nach ihm Ausschau gehalten.«
»Er ist allein geritten, wie er es immer hielt. Zum Glück! Es wäre mir nicht recht gewesen, wenn er in deinen Überfall verwickelt worden wäre. Anschar, mir macht das Angst.«
Er strich ihr eine feuchte Strähne aus der Stirn. »Ja, Feuerköpfchen, das verstehe ich. Die Gefahr ist Teil dieses Lebens hier, aber sieh es so: Es ist für mich wesentlich ungefährlicher als zu meiner Zeit bei Mallayur.«
Unzufrieden blähte sie die Backen. Dieses Argument überzeugte sie nicht. Er kniff ihr in die Wange und lächelte sie aufmunternd an.
»Es geschieht mir nichts, ich verspreche es dir. Ich schaffe es schon in die Teufelküche .«
Wann hatte sie ihm diesen Ausdruck beigebracht? Das musste eine halbe Ewigkeit her sein, und er hatte es sich gemerkt. Beinahe jedenfalls. »Nein. Du kommst in Teufels Küche, und das ist gar nicht gut.«
»Wie auch immer. Es muss getan werden.« Er sah auf, als Parrad und Oream wieder die Lichtung betraten. Beide hatten sich Kapuzenmäntel geholt. Einen warfen sie Anschar zu, der aufstand und ihn ausschüttelte. Der grobe Wollstoff war von dunklem Grau und löchrig. Anschar schlüpfte hinein und zerrte am Ärmel, als wolle er überprüfen, ob er seine Tätowierung ausreichend verdeckte. »Meinen hab ich gestern verloren«, erklärte er ihr. Noch einmal verschwand er in Richtung seiner Baumhütte und kehrte mit einem kleinen Beutel und seinem Schwert zurück. Es war ein anderes als das, was sie kannte: schmuckloser, aber zweifellos nicht
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