Das gläserne Tor
Grunde, so versuchte sie sich einzureden, war es auch nicht viel anders, als wäre sie eine Soldatenfrau. Und sie, eine Preußin, gebärdete sich so unbeherrscht! Kein Wunder, dass Anschar wütend geworden war. Sie folgte dem Mann zurück ins Dorf, nahm das Flechtwerk vom Boden auf und setzte sich auf den Baumstamm, wo sich inzwischen Jernamach niedergelassen hatte.
»Hast du es schon bereut?«, fragte er.
»Nein. Aber Anschar hat recht, so kann man nicht dauerhaft leben. Warum versucht ihr nicht, zurück in die Wüste zu kommen?«
»Weil ich uns davon abhalte. Parrad und noch ein paar andere würden es wagen. Anschar auch, obwohl es ihm nichts nützt, denn uns in die Wüste folgen würde er nicht.«
»Und warum verhinderst du es?«
»Weil dieses Leben der Gefangenschaft oder dem Tod vorzuziehen ist. Wir sind nicht gerade fähige Waldbewohner, aber für die Sklaverei ist kein Volk geschaffen. Anschar ist schwer zu begreifen. Er sorgt mit seinen Unternehmungen dafür, dass unser Leben hier etwas leichter ist – obwohl er das
natürlich hauptsächlich für sich selbst tut. Andererseits findet er es nicht richtig, dass wir uns unseren Herren entzogen haben. Seiner Meinung nach sind wir Sklaven und bleiben es auch, solange wir uns auf der Hochebene befinden. Und er selbst wünscht sich nichts sehnlicher, als wieder bei seinem früheren Herrn zu sein. Niemand sollte Sklave sein, aber einer wie er schon gar nicht. Er hat einen starken Freiheitsdrang. Nur weiß er das nicht.«
»Er will es nicht wissen.« Sie dachte daran, wie lange er es von sich gewiesen hatte, auch nur an Flucht zu denken. »Diese Unternehmungen – sind die eigentlich immer gut ausgegangen? Ist er schon einmal verletzt worden? Oder fast erwischt? Wie wahrscheinlich ist es, dass er heute Abend zurückkehrt?«
»Ach, das schafft er schon. Ewig geht das natürlich nicht gut. Ja, ich weiß, man kann niemandem raten, einfach nicht daran zu denken. Versuch es trotzdem.«
Grazia versuchte es. Wenn sie sich auf die Flechtarbeit konzentrierte, musste es doch gelingen. Es gelang nicht, und das, was sie tat, war hässlich anzusehen. Ständig wanderte ein Finger in den Mund, um an der Nagelhaut zu knabbern. Schließlich legte sie die Arbeit wieder beiseite und stand auf. Besser war es, oben in der Hütte zu warten. Dort konnte sie lesen und die Zeit verschlafen. Keine Art, den Tag zu verbringen, aber heute wollte sie sich das gestatten. Sie ging zum Baum und griff nach dem Seil und dem untersten Ast. Ihre Glieder erlahmten. Ohne Anschar wagte sie es nicht hinaufzusteigen. Hilflos sackte sie in sich zusammen. Ein Wasserschwall ergoss sich aus ihren Augen.
8
G razia spannte die Schnur, die sie geflochten hatte, nickte zufrieden und fädelte sie durch die Öse der Taschenuhr. Irgendwann am Nachmittag hatte sie jemanden gebeten, in die Hütte hinaufzusteigen und ihr die Uhr zu holen. Inzwischen war sie ganz froh, den Tag hier unten zu verbringen, wo die Frauen mehr und mehr auftauten und sie in Gespräche verwickelten. Sie hatte gelernt, die Ziegen zu melken und Getreide auf einem flachen Stein zu mahlen.
»Das ist ein sehr ungewöhnliches Schmuckstück«, sagte Ralaod, als sie sich die Uhr um den Hals hängte. »Es sieht gar nicht argadisch aus.«
Grazia überlegte, ob sie erklären sollte, dass sie das Schmuckstück trug, weil es die Zeit anzeigte, in der mit Anschars Rückkehr zu rechnen war. Aber für solche Geschichten war es noch zu früh. Und doch, die Frau schien ihre Gedanken zu erraten.
»Mit Oream geht es mir ähnlich. Immer hat man Angst. Wir können nicht ohne die Männer, aber mit ihnen ist es irgendwie auch furchtbar.« Ralaod entblößte eine gelbe Zahnreihe, in der ein Schneidezahn fehlte, zu einem hilflosen Lächeln. »Ich hasse Anschar dafür, dass er Oream immer mitnimmt. Keiner kennt sich im Wald so gut aus wie Oream, und er hat ja auch kein gezeichnetes Ohr. Bisher ist es immer gut gegangen.«
»Und heute? Es wird bald dunkel.«
Ralaod blickte in den Himmel. »Ja. Bis zum Einbruch der Dämmerung waren sie immer da.«
Sie stand auf und verschwand in einem der Zelte. Kurz darauf kehrte sie zurück und legte Grazia ein Säckchen in den Schoß. Neugierig schnürte Grazia es auf. Es waren weiße, flache Muscheln mit jeweils einem kleinen Loch am Rand.
»Für dich«, erklärte Ralaod feierlich. »Ich wollte sie mir an ein Gewand nähen, aber immer waren sie mir zu schade.«
»Danke.« Grazia war gerührt. Diese Muschelverzierungen
Weitere Kostenlose Bücher