Das gläserne Tor
kannte sie noch von Tuhrod, der Nomadenherrin. Ralaod hockte sich im Schneidersitz vor sie und nähte die Muscheln an den Saum ihres Gewandes. Es sah hübsch aus, auch wenn Grazia auf diese Weise eine ständige Mahnung an den Fluch mit sich herumtrug. Sie war froh, dass die Wüstenfrau ihre anfängliche Abneigung so rasch abgelegt hatte. Bei den anderen würde es früher oder später auch der Fall sein. Falls sie bis dahin noch hier lebte. Beim besten Willen vermochte sie es sich nicht vorzustellen. Einige Zeit, ja. Doch was war im Winter? Was war, wenn sie es nicht mehr aushielt, ohne weitere Bücher zu sein? Was, wenn das Heimweh übermächtig wurde? Noch war sie von dem Glück beherrscht, Anschar lebend wiedergefunden zu haben. Zumindest dies hatte sie vorher gewusst: Falls er lebte, würde sie zukünftig von der Sorge gequält werden, ihn wieder zu verlieren.
Die Nacht brach an. Grazia warf einen Blick auf die Uhr. Ihr entging nicht, wie sich einige darüber unterhielten, dass die Männer diesmal lange fortblieben. Die Frauen packten ihre Sachen zusammen und trugen sie in die Zelte. Die Ersten begaben sich hinauf in ihre Hütten.
»Sie kommen bald. Sie kommen bald«, murmelte Ralaod unentwegt, während sie auf dem Boden saß und den Oberkörper vor- und zurückwiegte. »Der Herr des Windes gebe es.«
Jäh riss sie den Kopf hoch. Die Dorfbewohner sprangen auf. Zwei Pferde kamen auf die Lichtung. Parrad und Oream
sprangen ab und zerrten die Säcke von den Sätteln. Beide wirkten erschöpft, als hätten sie eine lange Reise hinter sich. Oder einen Kampf. Sie achteten nicht auf die Menschen, die sich um sie scharten. Ralaod hing an Oream, doch der wehrte sie ab.
»Die Pferde müssen in den Stall. Und dann alle auf die Bäume.« Er wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über die Stirn. Sein Blick irrte umher und blieb an Grazia hängen. »Anschar kommt gleich. Er war dicht hinter uns.«
»Was ist passiert?«, fragte Jernamach, der inmitten des Getümmels starr wie eine Birke dastand.
»Nichts«, erwiderte Parrad. »Es ist gut verlaufen. Wir haben fast alles besorgen können. Keine Probleme, keine argadischen Krieger, die nach Anschar gesucht haben.«
»Aber?«
Oream deutete in den Wald. »Die Große Bestie … Wir sind fast auf sie gestoßen. Sie läuft ganz in der Nähe herum.«
»Dann schnell«, Jernamach wedelte mit den Armen, um die Leute anzutreiben. »Lasst das Feuer brennen.«
Grazia half mit, die Säcke in eines der Zelte zu bringen. Derweil führten andere die Pferde in den Unterstand. Parrad und Oream gossen sich Wasser über die verschwitzten Haare. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass nur noch das Herdfeuer Licht spendete. Aber half es auch, die Bestie abzuhalten?
»Wo soll ich hin?«, fragte Grazia, als sich alle zu ihren Bäumen begaben. Selbst der alte Jernamach stieg so flink wie die jungen Männer hinauf. Sie waren es gewohnt, nur sie stand hilflos da. Ralaod nahm sie an der Hand und führte sie zu einem Baum, auf dessen unterstem Ast Oream stand. Es half nichts, Grazia musste hinauf. Anschars Baum wäre ihr lieber gewesen, aber allein wollte sie auch nicht sein. Als sie neben Oream stand, zwei Meter über dem Erdboden,
atmete sie tief durch. Sie wollte sagen, dass es sicher hoch genug war und Anschar ja bald zurückkäme, als ein erstickter Schrei aus einem der anderen Bäume erklang. Das Unterholz raschelte, und dann sah sie einen Schemen außerhalb des Feuerscheins.
»Weiter hinauf«, zischte Oream. »Schnell!«
»O Gott, was ist das?«, flüsterte Grazia. »Was ist das?«
»Der Schamindar.«
Ralaod verschwand zwischen den Ästen über ihr. Oream half Grazia einen weiteren Ast hinauf. Dann erst begriff sie, was sie gehört hatte, und vor Schreck konnte sie sich nicht mehr rühren. Sie hatte die Arme um einen Ast auf Augenhöhe geschlungen. Ihre Füße hatten sicheren Stand. Kein Grund, sich weiterer Gefahr auszusetzen. Sie machte sich steif, als Oream sie an der Schulter rüttelte. Gottlob begriff er, dass sie viel zu sehr von Furcht erfüllt war, um weiter hinaufzusteigen, denn er machte keine Anstalten, sie zum Weiterklettern zu bewegen. Grazia vergaß zu atmen, als sie den Schemen herankommen sah. Ein Tier, riesenhaft wie ein Bär, aber von der Gestalt eines Löwen, glitt unter ihren Füßen entlang. Im Schein des Feuers erkannte sie einen länglichen, muskelbepackten Hals, einen hundeähnlichen Kopf, echsenartige Krallen und drei quastenbesetzte Schwänze, die sich
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