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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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gegenseitig umschlängelten. Es war die Chimäre, die sie auf so vielen Fresken und Statuen gesehen hatte – das heilige Tier Argads, der Begleiter des letzten Gottes. Ja, die Wüstenmenschen hatten gesagt, dass die Große Bestie hier in den Wäldern herumstreife, aber niemals hätte Grazia geglaubt, ihr zu begegnen. Das Tier umkreiste langsam das Feuer. Sie tastete sich etwas weiter vor, um es besser sehen zu können. Doch als der Ast knackte und das Tier sich herumwarf, um dem Geräusch nachzugehen, bereute sie es.
    Der Schamindar tauchte wieder unter ihren Füßen auf. Sie
glaubte das Feuer in einem Auge sich spiegeln zu sehen. Wie weit war sie entfernt? Drei Meter? Genügte es? Er warf den Kopf zurück, entblößte fingerlange, messerscharfe Fangzähne und stieß ein Brüllen aus, dass sie glaubte, der Baum müsse wanken. Ihr wurde schwindlig. In ihren Ohren pulsierte das Blut, und ihre Hände waren schlüpfrig von kaltem Schweiß. Gleich würde sie fallen. Sie spürte, wie ihr das Wasser an den Schenkeln herunterlief.
    Ein Speer schlug neben dem Schamindar auf und schlitterte über den Boden. Es war ein schwacher Versuch, der die Furcht des Werfers verriet. Es war Parrad gewesen, der in einem der Bäume auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung stand. Wenigstens lenkte der Wurf den Schamindar ab, denn er machte einen Satz seitwärts, fauchte und knurrte und drehte eine weitere Runde um das Feuer.
    Plötzlich erstarrte er. Die Schnauze erzitterte. Es war totenstill auf der Lichtung, nur das Knistern des Feuers war zu hören. Dann knackte es irgendwo dort draußen. Ein Pferd wieherte ängstlich. Es war keines aus dem Stall, es musste Anschars Pferd sein. Der Schamindar machte einen gewaltigen Satz über das Feuer hinweg und verschwand in der Dunkelheit. Nur wenige Sekunden später kreischte es tief im Wald, und Grazia wusste nicht, welches Tier ein so entsetzliches Geräusch ausstieß – der Schamindar oder die Beute, die er riss. Ihre Muskeln waren mit einem Mal butterweich. Ihre Füße glitten ab, und sie fiel bäuchlings auf den untersten Ast. Das Korsett bewahrte sie vor dem gröbsten Schmerz, doch die Luft entwich ihr aus den Lungen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Oream, der ihr nachgesprungen war, griff nach ihr. Sie wollte ihm die Hand reichen, aber dann verlor sie endgültig den Halt und stürzte auf den Waldboden.
    »Anschar …« Wo war Anschar? Starb er gerade unter den Fängen der Bestie? Grazia mühte sich auf die Knie. Alles an
ihr und in ihr schmerzte. Ihr Blick irrte zu der Stelle, wo die Bestie in den Wald gesprungen war. Die Geräusche des Todeskampfes waren verebbt.
    Da sah sie Anschar kommen. Das Pferd war fort, er sah aus wie ausgeraubt. Sein Mantel war ihm von der Schulter gerutscht. Die nackte Brust glänzte dunkel.
    Seine Schritte waren nicht ganz fest. Vom Hals bis zur Hüfte zog sich die glänzende Blutspur hin. In der Hand hielt er sein Schwert. Es war unbefleckt.
    Er wankte. Als er auf die Knie ging und das Schwert in die Erde stieß, um nicht vollends zu fallen, war Grazia auf den Beinen und hastete ungeachtet ihrer Schmerzen zu ihm.
    »Ich bin nicht verletzt«, sagte er. Sein Blick ging durch sie hindurch, als nehme er sie nur halb wahr. »Das Blut stammt vom Pferd. Der Schamindar hat es mir unter dem Hintern weggerissen.«
    »Dir ist wirklich nichts passiert?« Ihre Hände schwebten über seinem Brustkorb, aber in das Blut zu greifen, wagte sie nicht.
    »Ich bin nur erschrocken.«
    Das war eine milde Umschreibung dessen, was sich auf seinem fahlen Gesicht abspielte – blankes Entsetzen. Sie wollte das Blut abwaschen, doch sie war so zittrig, dass nur ein Rinnsal aus ihren Händen kam.
    »Lass das.« Matt schob er ihre Hände beiseite. »Sie können dich sehen.«
    Grazia warf einen Blick zurück. Sie glaubte in den Bäumen blasse Gesichter auszumachen. Ein paar Männer waren herabgesprungen; Oream und Parrad kamen näher, aber bevor sie Anschar erreichten, stemmte er sich hoch und wankte in Richtung seiner Hütte. Am Bach ließ er den Mantel zu Boden gleiten. Umständlich befingerte er den Schwertgürtel, bis es ihm gelang, ihn abzunehmen. Der Länge nach sackte er ins
Wasser und ließ sich die Schultern umspülen. Das Schwert hatte er auf die Steine am Ufer gelegt. Er ergriff es, als er wieder hinausstieg. Nun sah Grazia, dass er wirklich und wahrhaftig unverletzt war, bis auf ein paar Schrammen, die nicht bluteten. Er trat zu den Männern in den Lichtkegel des Feuers.
    »Sehen

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