Das gläserne Tor
Bringen wir ihm den Gott.«
»Wir?« Seine Miene verhärtete sich wieder. »Dir ist schon klar, dass es für mich darauf hinausläuft, aufs Neue in Mallayurs Hände zu fallen? Wie wahrscheinlich ist es, in den Palast einzudringen, den Gott aus seinem merkwürdigen Gefängnis zu befreien und wieder zu entkommen? Wir wissen ja nicht
einmal, wie sich dieser Behälter öffnen lässt. Selbst er kann es nicht! Wie sollte es uns da gelingen? Ich werde es versuchen, aber allein.«
»Nein!« Entsetzt stieß sie ihn zurück. »Ich halte das nicht aus, wenn du ohne mich gehst. Dieser eine Tag war schlimm genug. Ich will mitgehen.«
»Aber Grazia, wie könntest du mir denn dabei helfen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb der Gott mir die Fähigkeit gegeben hat … weil er all das kommen sah? Wäre das nicht möglich?«
»Das könnte höchstens ein Priester beantworten«, brummte er abweisend. »Deine Wasserkraft ist schwach. Sie ist gut, jemandes Durst zu löschen, aber damit hat es sich schon.«
»Das stimmt ja gar nicht! Was glaubst du, wie du es geschafft hast, den Kampf gegen Darur zu überstehen? Du hast zwar nichts davon gemerkt, aber ich habe dir zum Sieg verholfen.« Entrüstet verschränkte sie die Arme und rückte an die andere Wand. »So viel zu meiner Nutzlosigkeit.«
Anschar verfiel in Schweigen. Sie konnte förmlich sehen, wie es in ihm arbeitete. »Du hast mir geholfen?«, fragte er schließlich. »Wie denn?«
»Ich – ich habe …«
»Ja?«
Jetzt kam ihr lächerlich vor, was sie getan hatte. »Ich habe ihn abgelenkt, indem ich sein Gesicht nass gespritzt habe. So hat er nicht gemerkt, wie du seinen Dolch an dich genommen hast.« Er würde sie auslachen. Was waren schon ein paar Wassertropfen? Damit konnte man einer Kraft, die einen Gott gefangen hielt, schwerlich etwas entgegensetzen.
Er lachte nicht. »Du hast vielleicht recht. Ich kann das nicht beurteilen. Vielleicht ist es keine Frage der Menge, sondern wie man es einsetzt. Du kannst deinen Mund mit Wasser füllen. Kannst du auch meinen füllen?«
»Du meinst, ohne dass ich dich küsse?«
»Ja, ja!« Auffordernd winkte er mit den Fingern. »Versuch mich zu ersticken. Los, versuch es.«
»Anschar! Was verlangst du da?«
»Dass du deine Waffe erprobst. Also?«
Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich sein Mund und seine Kehle füllten. Tatsächlich rann ihm in der nächsten Sekunde Wasser aus dem Mund. Er spuckte es aus, nahm einen tiefen Atemzug und rieb sich über das Gesicht. Es musste schneller geschehen, mit mehr Kraft. Grazia streckte die Hände vor, wie sie es in der Arena getan hatte. Sein Kopf schlug gegen die Bretterwand; er fasste sich an den Hals und fiel vornüber, einen endlosen Schwall Wasser ausspuckend.
»Anschar!« Sie packte seine Schultern und schüttelte ihn. »Das wollte ich nicht.«
Er richtete sich auf, hustete und keuchte. »Das war schon nicht schlecht. Nur müsstest du es länger durchhalten.«
»Es macht mir aber Angst.«
»Dann bleib hier.«
»Nein.« Sie zerrte das nasse Fell unter seinen Knien hervor, kroch zum Ausgang und schüttelte es aus. All das war viel zu abenteuerlich für ihren Geschmack, aber wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass sie helfen konnte, den Knoten zu zerschlagen, würde sie es tun. »Ich habe dich einmal allein gelassen und es bitter bereut. Ein zweites Mal mache ich diesen Fehler nicht.«
Sein Atem strich über ihren Hals, seine Arme umfingen sie. »Ich gebe mich geschlagen«, sagte er verschwörerisch. »Aber bevor wir in den Tod gehen, lass uns endlich zusammenkommen.«
»Jetzt?«, fragte sie erschrocken.
»Weeß ick nisch. Was meinst du?«
»Ich? Oh, ähm … lieber morgen.«
»Na gut. Ich bin ohnehin nicht so sicher, dass ich heute noch etwas zustande brächte.«
Sie sah zu, wie er sich schlafen legte. Was immer du damit meinst, dachte sie. Was auch immer.
Der nächste Tag kam ihr wie einer der verwirrendsten ihres jungen Lebens vor. Beständig kreisten ihre Gedanken um zwei Dinge: die wahnwitzige Absicht, einen Gott zu befreien, und die kommende Nacht, die ihr nicht weniger wahnwitzig erschien. Der Abend brachte einen Regenguss, wie sie ihn in der argadischen Welt noch nie erlebt hatte. Trotz des dichten Blätterwerks befürchtete sie, die Hütte werde unter Wasser gesetzt. Doch das aus Grasgarben gebildete Dach hielt dicht. Sie streckte den Kopf hinaus und genoss das kühle Nass. Unten entdeckte sie Anschar im Bach. Nackt
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