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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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stieß ihm den Finger gegen die Brust. »Ich weiß, dass es deinem Gott nicht passt, wenn man andere verehrt. Aber das tut Grazia ja nicht. Sie opfert nie, also wird er sich nicht beschweren können.«
    »Anschar, bitte«, warf sie ein. »Das ist nicht so, wie du dir das vorstellst.«
    Er machte einen Schritt zurück, und Bruder Benedikt richtete sich wieder auf.
    »Das versuche ich den Argaden seit siebzehn Jahren beizubringen. Du wirst es auch nicht schneller schaffen, liebe Tochter. Natürlich werde ich beten, aber vielleicht wäre es doch besser, wenn ihr beide eure Pläne, die ich gar nicht so genau wissen will, fallen lasst. Leider kann ich euch stattdessen nicht raten, durchs Tor zu gehen. Es ist nicht mehr da. Es ist geschlossen.«
    »Oh.« Nach dem ersten Schreck verspürte sie auch ein wenig Erleichterung. Die ganze Zeit hatte sie befürchtet, dass Anschar doch noch darauf bestehen könnte, sie hindurchzuschicken. Allerdings war nun auch offen, wann sie ihre Familie wiedersehen würde.

    Du hast gewusst, dass es auch schmerzlich ist, von zu Hause fort zu sein, sagte sie sich. Jetzt beklage dich nicht.
    »Ja.« Bruder Benedikt nickte langsam. »Vielleicht vergehen wieder Jahre, bis es zurückkehrt. Wie geht ihr jetzt vor?«
    »Hattest du nicht gesagt, dich interessieren unsere Pläne nicht?«, fragte Anschar.
    »Die Neugier ist oft stärker als die Vernunft. Und ich muss ja wissen, wofür ich beten soll. Also?«
    »Na schön. Wir werden das Pferd hierlassen, wenn du es gestattest, und zu Fuß über die Felsen in südöstliche Richtung gehen. Es ist ein Umweg nötig, da wir nicht einfach durch Heria spazieren können, ohne aufzufallen. Wir steigen hinunter in die Wüste, besorgen uns ein Sturhorn und reiten am Fuß des Hochlandes bis hin zur schwebenden Stadt. Wenn wir die hinter uns gebracht haben, sind wir, das heißt ich, fast schon am Palast von Heria.«
    »Das klingt ja einfach. Und dann?«
    »Dann sehe ich weiter.«
    »Oh, hm, das klingt ja noch einfacher.« Bruder Benedikt stand auf. »Aber ihr werdet sicher erst hier in meiner Hütte nächtigen wollen?«
    Das hätte Grazia zu gern getan, zumal ihr plötzlich alles viel zu schnell ging, aber sie wusste, dass Anschar ablehnen würde.
    »Das, was mir hier zuletzt widerfahren ist, genügt, um genau das nicht zu wollen«, sagte er. »Wir verschwinden zwischen den Felsen, solange es noch hell genug ist.« Er streckte die Hand nach Grazia aus und zog sie von der Bank hoch. Dann nahm er das Bündel an sich. Es enthielt das Nötigste, um einige Tage im Freien durchzustehen. Grazia wünschte sich, sie hätten wenigstens die Felsen schon überwunden. Es würde hart werden. Aber sie hatte bereits so viel durchgestanden, dass ihr Vorhaben ihr nicht mehr unüberwindlich erschien.

    »Leb wohl«, sagte sie und ergriff Bruder Benedikts Hände. Er wirkte immer noch überrumpelt.
    »Gottes Segen«, erwiderte er.

    Die Nächte am Fuß der von der Sonne aufgeheizten Felswand waren warm, die Tage trotz des nahenden Winters heiß wie eh und je. Grazia kam es unwirklich vor, dass es in den Wäldern geschüttet hatte. Die Wüste hingegen war ein Glutofen. Das Korsett fühlte sich an wie ein Schraubstock, und das Gewand klebte förmlich an ihrem schweißfeuchten Körper. Es war wie in jenen langen Wochen, als sie mit Anschar die Wüste durchquert hatte. Doch es gab Unterschiede: Die Reise währte nur ein paar Tage, und sie führte nicht über sandige Dünen, die dafür sorgten, dass es ständig zwischen den Zähnen knirschte und überall juckte. Das Sturhorn bewegte seinen massigen Leib durch Felder meterhohen Felsengrases und über staubige, von unzähligen Sturhornfüßen geebnete Wege. Der größte Unterschied war jedoch, dass Grazia es nicht mehr heimlich tun musste, wenn sie ihr Wasser machte, um sich zu erfrischen. Oft schob sie die Hand in Anschars Nacken und ließ es seinen Rücken hinabfließen. Manchmal zog er auffordernd seinen Wickelrock hoch; dann nässte sie seine Schenkel. Und manchmal beklagte er sich im Nachhinein, dass sie das nicht schon auf der Herreise getan hatte.
    Dem Hunger konnte sie nicht abhelfen. Ihre wenigen Vorräte waren aufgebraucht, und zu jagen gab es hier nichts. Aber er hatte gesagt, dass die schwebende Stadt nicht mehr weit sei.
    »Wir werden bei Schelgiur das beste Bier trinken, das es je gab«, verkündete er. »Seinen in Essig eingelegten Braten wollte ich früher nie essen, aber jetzt kann ich es kaum erwarten.«

    Zwei Reiter auf

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