Das gläserne Tor
Sturhörnern kamen ihnen entgegen, beachteten sie jedoch nicht. Die Männer, an ihren Ziegenbärten als Herscheden erkennbar, hatten mit der Hitze zu kämpfen, wischten sich den Schweiß aus den Augen und stierten dumpf vor sich hin. Weitere Reiter kamen in Sichtweite. Nicht alle waren Sklavenfänger, hatte Anschar versichert, doch je näher sie Heria kamen, desto größer war die Gefahr, an welche zu geraten.
Er brachte das Sturhorn zum Stehen, sprang ab und half ihr hinunter. Rasch vergewisserte er sich, dass das Tier genügend Sichtschutz bot, prüfte den Sitz ihres Tuches, mit dem sie ihr Haar verdeckte, und schob ihr zusätzlich die Kapuze ihres Mantels in die Stirn. Dann nahm er ein Grasband.
»Warte«, sagte sie. »Lass mich dich vorher noch einmal umarmen.«
»Nur zu, Feuerköpfchen.«
Fest zog er sie an sich, sodass ihre Brüste gegen seinen harten Oberkörper drückten. Sie schob die Finger in die Armausschnitte seines inzwischen löchrigen schwarzen Hemdes und benetzte ein letztes Mal seinen Rücken. Dann küsste sie die Narben auf seiner Schulter. Es war anders, seitdem er sie genommen hatte. Früher hatte sie seine Nähe genossen, jetzt aber glaubte sie ein Teil von ihm zu sein.
Die Angst kehrte zurück, als er sich von ihr löste und das Band um ihre Hände schlang. Es missfiel ihm, das zu tun, denn seine Miene war verkniffen.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte sie kläglich. »Damit wird es eine Qual werden, die Stadt hinaufzusteigen.«
Er zögerte, nickte dann und knüpfte das Band nur um ihr rechtes Handgelenk. »Das wird genügen.« Als er fertig war, umwickelte er die Tätowierung auf seiner Hand mit Binden, nahm vom Rücken des Sturhorns seinen Mantel und schlüpfte hinein. Auch er warf die Kapuze über den Kopf, damit sie sein
Ohr verbarg. »Damals, als wir aus der Wüste kamen, war das nicht nötig«, sagte er voller Abscheu. »Ich wünsche mir so sehr, dass Mallayur für alles bezahlt, was seitdem geschehen ist. Und dass Madyur wenigstens schlaflose Nächte hat.«
Er gab ihr einen fahrigen Kuss. Dann half er ihr wieder hinauf und setzte sich hinter sie. Grazia ließ den Kopf hängen und setzte eine eingeschüchterte Miene auf. Sie verließen das Grasfeld, als sie ein Stück voraus einige Sklaven sahen, die damit beschäftigt waren, es abzuernten. Allerorten waren am Fuß der Wand Hütten und Zelte errichtet, in denen Männer hockten, bei vermutlich viel zu warmem Bier Geschäfte tätigten, mit ihren frisch eingefangenen Sklaven prahlten und Grazia neugierige Blicke zuwarfen. Niemand kam, um sie anzusprechen. Ab und zu flüsterte Anschar ihr ein beruhigendes Wort zu, das dennoch spüren ließ, wie angespannt er selbst war. Nach einer endlos langen Zeit erkannte sie in der Ferne eine ganze Sturhornherde und darüber die Hütten der schwebenden Stadt. In der hoch am Himmel stehenden Sonne warfen sie lange Schatten, sodass es aussah, als hinge an der Felswand ein riesiger dunkler Teppich mit verschachteltem Muster.
Grazia zuckte zusammen, als sie aus dem Gewirr unterhalb der Stadt Peitschenschläge vernahm. Menschen jammerten, andere brüllten. Diesmal sah sie keine Kette von eingefangenen Wüstenmenschen; es waren nur zwei, die mit gebundenen Händen in die Wüste liefen. Die Fänger sprangen auf ihre Pferde und hatten sie Sekunden später eingeholt. Im Näherkommen sah Grazia die vor ohnmächtiger Wut verzerrten Gesichter der Eingefangenen. Die Fänger warfen ihnen Schlingen um die Hälse und zogen sie hinter sich her. Bei der schwebenden Stadt dann, wo Dutzende von Sturhörnern angebunden waren, prügelten sie sie die Treppen hinauf.
»Eine ungewöhnliche Wüstenfrau«, hörte sie eine Stimme
an der Seite. Ein Herschede musterte sie und befingerte dabei seine Bartperlen. »Ist das deine?«
»Ja, leider«, sagte Anschar.
»Wieso leider?«
Er drehte ihren Kopf ein wenig und schob ihre Kapuze gerade so weit zurück, dass ihre Wange deutlich sichtbar war. »Sie hat sich irgendetwas eingefangen, und ich weiß nicht, was es ist.«
»Bei Inar! Ein Ausschlag. Schade, sie hat ein schönes Profil.« Der Mann hatte das Interesse verloren und machte, dass er weiter kam. Andere reckten neugierig die Köpfe, sagten aber nichts, und so gelangten sie unbehelligt zur Stadt. Es war so schrecklich wie beim ersten Mal, als der Lärm über Grazia hinweggerollt war. Sturhörner schnaubten, Männer schrien sich an. Still stand sie da, nachdem Anschar sie vom Rücken des Sturhorns gehoben hatte. Ihr
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