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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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fiel es alles andere als schwer, die ängstliche Sklavin zu spielen. Anschar warf einem Jungen die Zügel und eines seiner letzten Geldstücke zu und wies ihn an, gut auf das Vieh aufzupassen. In der Linken hielt er das Band, an dem er Grazia zu den Treppen führte.
    Sie stieß ein innerliches Seufzen aus und machte sich daran, hinter ihm hinaufzusteigen. Sie kannte es ja schon, aber das machte es nicht leichter. Wenigstens verschaffte ihr die Fessel ein wenig das Gefühl, gesichert zu sein. Den Blick fest auf seinen Rücken geheftet, um nicht in die Versuchung zu geraten, in die Tiefe zu blicken, nahm sie Stufe um Stufe, Hütte um Hütte. Die Stadt war so belebt, wie sie sie in Erinnerung hatte; ständig wurden sie von Männern überholt, oder es kamen ihr welche entgegen, und dann erzitterten die Bretter unter ihren Füßen. Sklaven schleppten Tonkrüge in die Wirtshütten, Frauen lungerten herum und lauerten auf Dinge, über die Grazia lieber nichts wissen wollte. Der Wind, der ab und zu die schwebende Stadt erzittern ließ, konnte
den Geruch nach Bier, Schweiß und vielerlei anderem nicht vertreiben.
    Nachdem sie die Hälfte hinter sich gebracht hatten, erreichten sie durch eine Bodenklappe eine Hütte, die Anschar für gut genug befand, eine längere Rast einzulegen. Grazia sackte auf eine Bank und rieb sich über die müden Schenkel. Gerne hätte sie lauthals gejammert, aber eine Sklavin durfte das nicht. Verstohlen hielt sie die Hand vor den Mund, damit niemand sah, wie sie ihren Durst löschte. Anschar ließ sich einen Becher mit rötlichem Bier bringen, das er ohne Genuss hinunterkippte.
    »Einfach zu warm. Hier haben sie keine Felsnische zum Kühlen.«
    Die Frau, die es gebracht hatte und nun das Kupferstück in Empfang nahm, rümpfte die Nase. »Dann musst du hinauf zu Schelgiur. Aber da ist’s auch teurer, sag ich dir.«
    »Das weiß ich.«
    »Was ist mit der?« Sie deutete auf Grazia.
    »Was soll mit ihr sein?«
    »Kriegt sie nichts zu trinken?«
    »Wüstenfrauen sind genügsam.«
    »Das stimmt.« Die Herschedin beugte sich über sie und befingerte den bestickten Saum des Wüstengewandes. »Schönes Gewand. Die ist bestimmt teuer, oder?«
    Er hielt Grazias Hand an der Fessel hoch. »Sie gehört Fergo höchstpersönlich. Sie war ihm weggelaufen, als sie markiert werden sollte, und ich bringe sie zurück.«
    »Dem mächtigsten aller Sklavenhändler?« Beeindruckt pfiff die Frau durch die Zähne. »Dann kriegst du sicher eine Belohnung. Vielleicht magst du die ja hier ausgeben?«
    »Vielleicht.« Er lächelte, und sie entfernte sich mit einem vielsagenden Blick, um sich den anderen Gästen zu widmen. Nicht zum ersten Mal sorgte die Erklärung dafür, dass man
nicht auf den Gedanken kam, er könne selbst ein Sklave sein.
    »Hast du dich genug ausgeruht, Feuerköpfchen?«
    »Ausgeruht ja – genug ganz bestimmt nicht.«
    »Es ist nicht mehr weit zu Schelgiurs Hütte, dort rasten wir ein bisschen länger. Jetzt komm …«
    Mit Getöse flog die Deckenluke auf, die zur Hütte über ihnen führte, und ein Mann sprang die Treppe herab. Hinter ihm folgten zwei weitere.
    »Feuer!«, brüllte er. »Oben ist Feuer ausgebrochen! Runter, schnell!«
    Sie rissen die Bodenklappe auf und waren in Windeseile verschwunden. Augenblicklich sprangen die Gäste auf und drängten hinunter. Anschar zerrte Grazia mit sich. Sein Ziel schien jedoch der Weg hinauf zu sein. Sie versuchte ihn zur Bodenklappe zu ziehen, aber genauso gut hätte sie an einem Felsblock rütteln können. Die Herschedin stieß Grazia beiseite und kletterte flink hinab. Hinter ihr brüllte der Wirt seine Wut heraus, dass sie sein Haus so schnell im Stich ließ.
    Zwei weitere Männer kamen von oben, kaum dass Anschar einen Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte. Grazia begriff nicht, wie er hinaufkommen wollte. Und warum. Sie stellte sich vor, wie es aussah, wenn eine hängende Stadt, die gänzlich aus Holz bestand, in Brand geriet. Nein, sie konnte es sich gar nicht vorstellen. Wie weit waren sie über dem Boden? Schon viel zu weit! Womöglich würde sich das Feuer schneller hinunterfressen, als sie fliehen konnten. Aber sie waren auch zu weit von der Hochebene entfernt. Er glaubte allen Ernstes, dass der Aufstieg noch zu schaffen war?
    »Was tust du?«, schrie sie.
    »Wir müssen nach oben.« Er zerrte einen Mann beiseite, der herunterkam, dann den nächsten. Jäh stieß er einen wuterfüllten Schrei aus, riss den Mantel von den Schultern und
das

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