Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
seine Schulter. Auch er war erstarrt. Der Boden unter ihnen erzitterte. Sie kniff die Augen zusammen, als könne sie dem Regen der brennenden Gegenstände entgehen. Fahrig wischte sie sich über das Gesicht. Wasser!, dachte sie. Aber sie war viel zu verwirrt, um mehr als ihren Kopf benetzen zu können. Was half es auch? Sie würden gleich abstürzen.
    Schelgiurs Hütte brach mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen und sackte, wie von einer Flutwelle fortgeschwemmt, mitsamt Tischen, Bänken, Krügen, Essgeschirr in die Tiefe. Nur die Seile, die sie in der Felswand verankert hatten, blieben zurück.
    »Halt dich an mir fest«, befahl Anschar und packte das einzige Seil, das er erreichen konnte. Grazia warf die Arme über seine Schultern. Einen Atemzug später durchschlug irgendetwas den Boden und riss ihn von ihren Füßen weg. Anschar stieß einen heiseren Schrei aus, als das Seil sich unter ihrem Gewicht spannte. Es waren nur zwei Meter bis zur Nische. Nur zwei – doch die rettende Kante schien so fern wie das Ufer auf der anderen Seite der Havel zu sein.

    Handbreit um Handbreit kämpfte er sich nach oben. Über das allgegenwärtige Entsetzensgeschrei hinweg hörte sie ihn stöhnen und mit den Zähnen knirschen. Ihre Arme drohten an seinen schweißnassen Schultern abzugleiten. Warum kann ich nichts tun?, schrie es in ihr. Warum bin ich so hilflos?
    »Grazia«, stieß er mühsam hervor. »Das Seil … brennt. Du musst es löschen.«
    Sie hob den Kopf. Auf halber Strecke, fast zum Greifen nah, flackerte eine Flamme, so klein wie gefährlich. Es gab keinen zweiten Versuch. Grazia streckte die Hand aus. Ein Wasserstrahl schoss heraus. Die Flamme zischte und verglühte.
    Drohend dehnten sich die verbliebenen Fasern.
    »Wir werden sterben«, hauchte sie in sein Ohr.
    »Das werden wir.« Mit einem heiseren Schrei reckte er sich und packte das Seil oberhalb der beschädigten Stelle. »Aber nicht jetzt!«
    Seine Finger ertasteten die Nischenkante. Er reckte einen Arm ins Innere, während er sich am Seil hochzog. Stück für Stück schob er sich in die Nische, bis Grazia es wagte, von ihm herunterzukriechen. Aus dem Augenwinkel sah sie eine brennende Hütte auf sie zukommen. Verzweifelt zerrte sie an Anschars Hemd. Er warf die Beine über die Kante. Eine Qualmwolke hüllte sie ein, als das Gewirr aus Brettern und Seilen dicht neben ihnen herabstürzte. Sie fühlte sich von ihm hochgezogen und tiefer in die Nische gedrängt, wo sie nach Atem ringend auf die Knie sackten. Als sie den Schatten eines fallenden Menschen vorbeifliegen sah, warf sie sich an seine Schulter.
    »Schscht, Feuerköpfchen, es ist ja vorbei.«
    »Vorbei?« Jetzt, da sie Zeit dazu hatte, hörte sie all die Schreckensgeräusche sterbender Menschen, krachender Behausungen, fauchender Flammen. Sie presste die Hände auf
die Ohren. Ihre Stimme dröhnte in ihrem Kopf, als sie schrie: »Wir werden hier auch sterben!«
    »Nein.« Er legte die Hände auf ihre und sah sie eindringlich an. Schmutz hatte sich in den Winkeln seines Gesichts gesammelt, und der Schweiß lief ihm in Strömen herab. Seine Haare waren zerzaust und von herabgeregneter Asche bedeckt, die Zöpfe halb aufgelöst. »Nein, vertrau mir. Wir sind hier sicher.«
    »Ich vertraue dir.« Sie zuckte zusammen, als sie einen neuerlichen Schrei hörte. Dann kauerte sie sich an seine Seite, im verzweifelten Bemühen, nichts mehr zu hören und nichts mehr zu denken.

    Die Stille nach dem Inferno war gespenstisch. Grazia hob den Kopf. Wie viel Zeit war vergangen? Sie wusste es nicht. Anschar stand auf und ging gebückt auf die Kante zu. Dort kniete er sich hin und streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Sein Blick ging in alle Richtungen. Er schien nicht glauben zu können, was er sah.
    »Die schwebende Stadt gibt es nicht mehr«, sagte er rau. »Hin und wieder bricht ein Feuer aus, aber so verheerend war es noch nie. Die verfluchte Trockenheit! Ganz Hersched ist ja ein einziger Zunder.«
    Von einem Stapel nahm er einen Krug, schlug ihn an der Wand auf und reichte ihn ihr. Nach Wein war ihr nicht zumute, aber vielleicht beruhigte es ihre zitternden Glieder. Angenehm kühl rann das herbsüße Getränk ihre Kehle hinab. Auch Anschar öffnete sich einen Krug. Der Wein rann ihm über die Brust. Er wischte sich den Mund und ließ den Krug fallen.
    »Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie. »Niemand weiß, dass wir hier sind, und das soll ja auch niemand wissen. Entweder wir sterben hier, oder wir

Weitere Kostenlose Bücher